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Dieses Thema hat 977 Antworten
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 Film- und Fernsehklassiker national
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Gubanov ( gelöscht )
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13.05.2017 16:30
#826 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten



Derrick: Ein Objekt der Begierde

Episode 230 der TV-Kriminalserie, BRD 1993. Regie: Zbynek Brynych. Drehbuch: Herbert Reinecker. Mit: Horst Tappert, Fritz Wepper sowie: Stefan Wigger (Kowalski), Jeannine Burch (Karoline Hecht), Michael Mendl (Soost), Jutta Kammann (Helene Soost), René Heinersdorff (Bleiweg), Hans Georg Panczak (Hans Ratinger), Sky Dumont (Tuball), Ralf Schermuly (Kieler) u.a. Erstsendung: 17. Dezember 1993, ZDF.

Zitat von Derrick: Ein Objekt der Begierde
Ohne jeden provokanten Gedanken bringt die hübsche, lebensfrohe Karoline Hecht die Männer reihenweise um den Verstand. Die junge Frau nimmt Englischnachhilfe beim Studenten Roland Bleiweg, in dessen Haus jeder hinter Karoline her ist. Dennoch ist es für die Hausgemeinschaft eine böse Überraschung, als Karoline missbraucht und erwürgt im Treppenhaus liegt. Dem Vorschlag des Wortführers Soost folgend, geben sich alle Mieter größte Mühe, den Verdacht auf den Trinker und ehemaligen Schauspieler Kowalski zu lenken. Und tatsächlich: Er gesteht, den Mord begangen zu haben ...


„You Are so Beautiful“ von Joe Cocker wählte Zbynek Brynych als Musikuntermalung für diese Folge – eine mutige und etwas zynische Wahl, wenn man bedenkt, dass dieses Lied nicht nur im Abspann, sondern auch beim Fund der Leiche im Treppenhaus der Mietskaserne, in der sich die gesamte Episode abspielt, ertönt. Es ist nicht der einzige streitbare Aspekt einer Folge, die ohne große Überinterpretation als Reineckers vielleicht frauenfeindlichstes Drehbuch gelten muss. Nicht nur wird die attraktive Frau im Titel gleich zum Objekt, auch wickelt sich der ganze Fall bedauerlicherweise unter dem Blickwinkel „die sich anbietende Frau ist selbst schuld, wenn ihr etwas zustößt“ ab. Krude Hinweise auf eine Zeit, in der der Körper immer wichtiger wird, helfen gerade nicht dabei, misogyne Tendenzen auszubügeln, die sich über die Rolle von Karolin Hecht hinaus auch in Gestalt der ihren Mann terrorisierenden, bettlägrigen Frau Kieler bemerkbar machen.

Brynych tut nicht viel, um von diesem faden Beigeschmack abzulenken. Im Vergleich mit anderen Inszenierungen des Böhmen wirkt „Das Objekt der Begierde“ eher schleppend und kammerspielartig, was in Anbetracht des eher farblosen Schauplatzes und der zusammengewürfelt wirkenden Hausgemeinschaft als Rezept für unterhaltsame 60 Minuten nicht ausreicht. Eine dynamisch geschnittene Einstiegsszene, in der Brynych nach Hitchcock-Vorbild einen unterhaltsamen Cameo-Auftritt als Fußgänger auf den Ampelüberweg legt, ist der einzige Ausweg aus dem „Haus der lüsternen (mehr oder minder) alten Männer“. Denen steht mit Jeannine Burch eine etwas zu zeitgeistige Schönheit gegenüber, deren Ausstrahlung eher mädchenhaft wirkt. Immerhin ist es eine recht interessante Randnotiz wert, dass die Nachhilfeschülerin und ihr Tutor aus dieser Folge, Burch und Heinersdorff, sieben Jahre nach ihrem gemeinsamen „Derrick“-Auftritt eine Ehe schlossen, die dann wiederum im verflixten siebten Jahr scheiterte.

Lediglich in Kleinrollen zu sehen sind die Serienveteranen Hans Georg Panczak und Sky Dumont, während die zentrale Rolle des beschuldigten, abgesackten Schauspielers dem Theatermann Stefan Wigger zufällt. Der versucht, seiner Rolle eine pathetische Grandezza zu verleihen, scheitert aber an seinen allzu heftigen Übertreibungen, sodass seine Szenen dem Zuschauer bald ebenso auf die Nerven fallen wie Christine Merthan als hysterisch-biestige Frau Kieler. Beide Rollentypen hat man schon besser gesehen, z.B. Peter Pasetti in „Solo für Vier“ und Hannelore Hoger in „Langsamer Walzer“. So liefert „Das Objekt der Begierde“ außer einer Portion Plakativität nicht viel Neues, wobei hierfür den meisten Mitwirkenden wohl weniger Schuld zugesprochen werden muss als Reinecker selbst.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihre übermäßige Liebenswürdigkeit das weibliche „Objekt der Begierde“ in Schwierigkeiten bringen würde. Ein testosterongesteuerter Mord beschert allen Hausbewohnern das gleiche Motiv; ergänzt wird der wenig herausfordernde Kriminalfall von einigen verschwurbelten Philosophie-Dialogen. Dem ausgeglichenen Ensemble steht Stefan Wigger nur namentlich vor; seine darstellerische Leistung ist zu schwach, um als Leading Man und veritabler Hauptverdächtiger durchzugehen. 2,5 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

13.05.2017 19:45
#827 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten



Derrick: Das Thema

Episode 231 der TV-Kriminalserie, BRD 1994. Regie: Alfred Weidenmann. Drehbuch: Herbert Reinecker. Mit: Horst Tappert, Fritz Wepper sowie: Jochen Horst (Werner Godel), Irene Clarin (Monika Godel), Richy Müller (Ralf Kranz), Eva Maria Bauer (Frau Waldhaus), Werner Schnitzer (Herr Kindermann), Arnd Klawitter, Paul Weismann, Heinrich Waldmann u.a. Erstsendung: 7. Januar 1994, ZDF.

Zitat von Derrick: Das Thema
Dass sich seine Schwester Monika bei ihm einnistet, um ihn zum Thema einer Fotoreportage zu machen, passt dem Germanistikstudenten Werner überhaupt nicht, denn er hängt gerade seinen eigenen Problemen nach. Als Helfershelfer einer Autoschieberbande, der dafür verantwortlich ist, die gestohlenen Fahrzeuge über die Grenze nach Österreich zu fahren, wurde Werner am Vorabend in einen Mord an einem Wagenbesitzer verwickelt. Der Mörder, sein Komplize Kranz, lässt nicht locker und verlangt prompt die nächste Gefälligkeit. Und dann sitzt Werner auch noch dieser aufdringliche Kriminalbeamte Derrick im Nacken!


Es ist schon schwer genug für Werner Godel, sein kriminelles Doppelleben – tagsüber im Hörsaal, abends mit gestohlenen PKWs auf der Autobahn – vor seiner neugierigen Wirtin zu verbergen. Dass seine Schwester ihn nun auch noch belagert, nervt nicht nur Werner, sondern auch die Zuschauer, denn Irene Clarin packt in dieser Rolle ’mal wieder ihre ganze Aufdringlichkeit aus. Man möchte es dem Studenten in Anbetracht seiner überbehütenden, dauerplappernden Schwesternglucke fast schon verzeihen, dass er auf die kriminelle Bahn abgerutscht ist, zumal es sich bei den Ausflüge, auf die man Werner begleiten darf, um die atmosphärisch dichtesten Momente der Folge handelt. Insbesondere die Grenzkontrollen werden als spannungsvolle Momente ausgekostet, während der Rest der Fahrten Weidenmann Gelegenheit gibt, das ZDF-Publikum mit knackiger Duval-Mucke zu beschallen.

Der Nacht, in der ein Autoklau schief geht, widmet „Das Thema“ besonders reizvolle Minuten. Die offenkundig überforderten Gangster Jochen Horst und Richy Müller beraten sich im Auto in Anwesenheit ihres Opfers über das weitere Vorgehen – natürlich weiß man sofort, dass es sich um einen nur möglichst effektiv herausgezögerten Mord handeln wird und Werner Schnitzer als gekidnappter Autobesitzer nur eine Galgenfrist zugestanden bekommt, bis ihn die Ganoven in ein entlegenes Waldstück gebracht haben. Als dort dann seine Leiche aufgefunden wird, scheint der Fall schon weitgehend geklärt zu sein – Derrick und seine Assistenten haben die Hintergründe des tödlichen Abends bereits off-screen lückenlos durchschaut und suchen nur noch nach den Tätern. Und als gäbe es in München nicht mehr als eine Handvoll Germanistikstudenten, stolpert Derrick natürlich binnen fünf Minuten auf dem Campus sowohl über Werner als auch über dessen Schwester. Man merkt hier, dass Herbert Reinecker es sich schon wirklich einfach machte, was die Ermittlungsarbeit betrifft, und dass er die traditionell-kriminalistischen Elemente absichtlich so weit wie möglich ausdünnte, um entsprechend viel Platz für moralphilosophische Überlegungen freizuräumen.

Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass Tappert und Wepper reizlose Auftritte hätten. Im Gegenteil: Den Polizisten stehen in „Das Thema“ einige kultige Szenen zu, in denen Stephan für einen Mitarbeiter der Univerwaltung oder einen Dozenten gehalten wird („Glaubst du, dass das ein Polizist ist?“ – „Ganz bestimmt nicht.“) und Harry später seinen Chef zur Vernunft rufen darf („Stefan, was willst du sagen?“). Solche Momente, in denen man die besondere Chemie von Tappert und Wepper spürt, kommen in letzter Zeit wieder häufiger zum Einsatz, nachdem die Interaktion zwischen Stephan und Harry sich zuvor ein wenig zu routiniert gestaltet hatte.

Mehr Profit hätte man aus dem interessanten Kniff schlagen müssen, dass es sich beim Mordopfer um den Vater eines Kommilitonen von Werner handelt. Außer einem peinlich berührten Treffen mit dem Sohn entspringt diesem Umstand kein nennenswerter Reiz, zumal Werner schon ein schlechtes Gewissen hat, bevor er überhaupt von dieser Querverbindung erfährt. Auf jeden Fall kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass man „Das Thema“ dramatischer hätte aufziehen können, wenn Reinecker seinen stereotypen Vorstellungen von bitterbösen Berufsverbrechern und rückgratlosen studentischen Gelegenheitsgaunern nicht so massiv nachgegeben hätte. Aber das war halt sein Thema.

Pittoresker Autoschmuggel als Auftakt zu einem allzu zufallsbestimmten Fall, der sein volles Potenzial nicht ausschöpft. Ein guter Jochen Horst bekommt eine überkandidelte Irene Clarin an die Seite gestellt; Derrick wiegt das exzentrische Geschwisterpaar mit so solidem Auftreten auf, dass man ihm den Polizisten gar nicht ansieht. 3 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

15.05.2017 21:50
#828 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten

Und ehe ich mich versehe, bin ich bei den letzten 50 Folgen angekommen!



Derrick: Nachts, als sie nach Hause lief

Episode 232 der TV-Kriminalserie, BRD 1994. Regie: Helmuth Ashley. Drehbuch: Herbert Reinecker. Mit: Horst Tappert, Fritz Wepper sowie: Karlheinz Hackl (Jakob Meissner), Krista Posch (Doris Meissner), Christine Buchegger (Helene Meissner), Hans-Georg Panczak (Gerhard Meissner), Cornelia Boje (Maria Saska), Hans Peter Hallwachs (Dengler), Paul Neuhaus (Hafner), Eva Herter u.a. Erstsendung: 4. Februar 1994, ZDF.

Zitat von Derrick: Nachts, als sie nach Hause lief
Dass seine Frau Doris eine Schwäche für flotte Abende außer Haus hat, weiß Buchhändler Jakob Meissner nur zu gut. Still leidet Meissner, wenn seine Gattin sich mit anregender Musik in Stimmung bringt, im kurzen Kleid das Haus verlässt und sich die Nacht mit fremden Männern um die Ohren schlägt. Doch würde er sie dafür auch ermorden? Diese Frage stellt sich Derrick, als Doris’ Leiche in Sendling gefunden wird. Meissner fällt derweil von einer Sorge in die nächste, denn nun quartiert sich seine herrische Schwester bei ihm ein ...


Häufiger als der entweder strahlend idealistische oder gestrauchelt kriminelle Student kommt bei Reinecker fast nur noch das Rollenklischee des mit ihrer Liebe freigiebig umgehende Frauenzimmers zum Einsatz – hier in einer verheirateten Variation, die naturgemäß besonders gefährlich lebt, weil sie ja eigentlich kein „Freiwild“ mehr sein sollte. Ungewöhnlicherweise lässt Reinecker hier nicht nur verruchten Spaß und unterdrückte Wut der Familie anklingen, sondern thematisiert Nymphomanie als Leidensphänomen, an dem Doris Meissner auch selbst zu knabbern hat, weil sie durchaus einsieht, wie ihr Privatleben dadurch vor die Hunde geht. Leider geht Helmuth Ashleys Regie echtes Einfühlungsvermögen ab, sodass die Momente des Zweifels ebenso wie die der Rage insgesamt künstlich und wenig überzeugend bleiben.

Was also übrigbleibt, ist ein mittelprächtiges Familiendrama, dessen Hauptprotagonist als emaskuliertes Wesen durch die Folge wandelt (die ultimative Entmännlichung besteht für Reinecker offenbar in dem Symbolbild, dass die Frau die Schlüsselgewalt über das gemeinsame Auto hat ...). Karlheinz Hackl bleibt in dieser Rolle einigermaßen formelhaft. Seine wenig ergreifende Darstellung und die recht langwierigen ersten 20 Minuten der Folge bedingen sich gegenseitig – ein engagierterer, glaubwürdigerer Einstieg hätte ihn zweifellos zu einer besseren Performance angestachelt; eine stimmigere Darbietung wäre umgekehrt auch der Entwicklung der Mordgeschichte zugute gekommen. Krista Posch beweist im Gegensatz dazu, dass sie nicht nur eine Hauptrolle unter Idealbedingungen wie in „Die Lebensgefährtin“ stemmen kann, sondern selbst auf schwächerem Terrain den Part des Mordopfers so charismatisch auszubauen versteht, dass er fast schon Hauptrollenqualität erlangt (und zumindest den bleibendsten Eindruck hinterlässt). Die Kleider, die ihr der langjährige Ringelmann-Kostümbildner (Helmut) Holger anzieht, passen zum Krankheitsbild von Doris Meissner und lassen selbst – oder gerade? – den heutigen Zuschauer so manches Mal brüskiert die Augenbrauen hochziehen ...

Als resolutes Mannweib, das vielsagenderweise noch unter ihrem Geburtsnamen ihr Unwesen treibt, sichert Christine Buchegger den Krawallfaktor der sonst in überaus ruhigen Wassern segelnden Episode. Die Schwester, die das ach so verpfuschte Leben ihres Bruders selbst in die Hand nimmt, zeigt das entgegengesetzte Extremtemperament zu der entscheidungsschwachen, unsicheren Doris. Leider trägt Buchegger so dick auf, dass man ihre Figur nur bedingt ernstnehmen kann und dass gleichzeitig auch kaum Zweifel an den Tathintergründen aufkommen. Diese wickelt die Folge letztlich nur pflichtschuldig in einem übereilten Finale ab, das zwar hübsch aussieht, aber vor Gericht kaum Bestand haben dürfte.

Krimi oder Krankheitsfall? Frauenversteher Reinecker widmet dem gesellschaftlich zu Unrecht verdrängten Massenproblem Nymphomanie (wieder) eine Stunde Abendunterhaltung, die Verständnis und Mitleid erregen soll, aber zur Erfüllung dieses Ziels zu flach ausfällt. Hier hätte ein anderer Regisseur Abhilfe schaffen können. Krista Posch überzeugt am ehesten, ihr Filmmann Hackl bleibt eine blasse, kaum ausgearbeitete Identifikationsfigur. 3 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

16.05.2017 00:15
#829 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten

Ein Gedanke zu später Stunde: „Zwei Tage, zwei Nächte“, „Nachtvorstellung“, „Die Nacht mit Ariane“ und „Nachts, als sie nach Hause lief“. Deuten vier der sieben letzten Folgentitel etwa darauf hin, dass Herbert Reinecker seine Drehbücher gern am späten Abend verfasste?

Mark Paxton Offline




Beiträge: 347

16.05.2017 11:16
#830 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten

... und hatte er einen Bekannten, der geistig beeinträchtigt war und der Bruno hieß? :-)

Ich glaube in einer Doku zur 250. Derrick-Folge wurde Reinecker über seine Arbeitsweise befragt. Wenn ich mich richtig erinnere, dann begann er morgens und arbeitete bis mittags, um dann mit Schere und Tesafilm das Geschriebene zusammen zu setzen.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

16.05.2017 16:55
#831 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten

Zitat von Mark Paxton im Beitrag #830
... und hatte er einen Bekannten, der geistig beeinträchtigt war und der Bruno hieß? :-)



Stimmt aber natürlich: Für spätnächtliche Schreibattacken war Herbert Reinecker eine viel zu gesittete Persönlichkeit. Ich habe auch nochmal nachgeschlagen und eine hübsche Beschreibung des routinierten Schreibprozesses gefunden:

Zitat von Katrin Hampel: Das große Derrick-Buch, Henschel Verlag Berlin, 1995, S. 62f
Seine „Mordmethode“ ist immer die gleiche: Nach dem Frühstück, zwischen 8 und 9 Uhr morgens, sitzt der geistige Vater unzähliger ZDF-Krimis an [seinem] alten Schreibtisch. Er spannt ein weißes Blatt Papier in die mechanische Schreibmaschine und blickt nachdenklich zum Fenster hinaus, auf seinen idyllischen Garten – dann wieder auf das leere Blatt Papier. [...] Im Zweifingersystem wird nun drei bis vier Stunden getippt – das geht übrigens genauso schnell wie bei einem Zehnfingerschreiber. Als Herbert Reinecker kürzlich gefragt wurde, ob er tatsächlich noch immer nur „zwei Finger“ benutze, antwortete er: „Nein! Im hohen Alter nehm ich schon mal einen dritten dazu.“


Dann bleibt die titelgebende Nachtschwärmerei wohl doch nur eine Metapher für Unsicherheit, Verbrechen und Gefahr.

Marmstorfer Offline




Beiträge: 7.519

16.05.2017 23:12
#832 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten

Zitat von Gubanov im Beitrag #829
Ein Gedanke zu später Stunde: „Zwei Tage, zwei Nächte“, „Nachtvorstellung“, „Die Nacht mit Ariane“ und „Nachts, als sie nach Hause lief“. Deuten vier der sieben letzten Folgentitel etwa darauf hin, dass Herbert Reinecker seine Drehbücher gern am späten Abend verfasste?


Auf den Gedanken könnte man durchaus kommen. Im weiteren Serienverlauf folgen ja auch noch Nachtgebete, Mitternachtssolo, Gesang der Nachtvögel und Die Nächte des Kaplans. Das ist aber noch gar nichts gegen die inflationäre Verwendung der Begriffe "Mord" und "Mörder" in den Titeln der Folgen 245-260 - dort finden sich Ein Mord, zweiter Teil, Teestunde mit einer Mörderin?, Ein Mord und lauter nette Leute, Dein Bruder, der Mörder, Die Ungerührtheit der Mörder, Einen schönen Tag noch, Mörder, Ruth und die Mörderwelt, Frühstückt Babette mit einem Mörder? und Mordecho.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

17.05.2017 08:50
#833 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten

Eindrucksvoll! Dafür geht es hier mit einem garantiert mordfreien „Derrick“ weiter (zumindest während der gezeigten 58 Minuten):



Derrick: Das Plädoyer

Episode 233 der TV-Kriminalserie, BRD 1994. Regie: Theodor Grädler. Drehbuch: Herbert Reinecker. Mit: Horst Tappert, Fritz Wepper sowie: Klaus Herm (Lakonda), Lambert Hamel (Dr. Erich Kolbe), Sona MacDonald (Ingeborg Kolbe), Philipp Moog (Wenk), Christine Merthan (Frau Doppler), Günter Gräwert (Eichholz), Hans Bergmann (Pedell) u.a. Erstsendung: 4. März 1994, ZDF.

Zitat von Derrick: Das Plädoyer
Lebenslang für Frauenmörder Rudolf Lakonda war das Resultat des formvollendeten Plädoyers, das der junge Staatsanwalt Kolbe vor fünfzehn Jahre hielt. Nun wurde Lakonda, der sich immer gut führte, wieder entlassen. Sein erster Weg führt ihn zu Kolbe, denn er will etwas richtigstellen: Er habe seine Frau zwar getötet, doch das Plädoyer sei dennoch völlig falsch gewesen. Nun will er dem mittlerweile zum Oberstaatsanwalt avancierten Beamten sein Unverständnis von damals heimzahlen – Kolbe soll leiden! Tatsächlich wird dessen Frau kurz darauf überfallen, kann aber von einem Passanten gerettet werden. Frau Kolbe freundet sich mit ihrem vermeintlichen Lebensretter an, ohne zu wissen, dass er mit Lakonda in Verbindung steht ...


Auch wenn dieser „Derrick“ nicht mit einem spektakulären Mord beginnt, so befolgt er doch alle Regeln, die einen Freitagabendkrimi zum Erfolg machen: Eine dauerhafte Atmosphäre der Anspannung ergänzt sich mit wenigen, dafür aber gut abgerundeten Beteiligten zu einem hochspannenden Fall, in dem Gegenwart und Vergangenheit eine unheilige Allianz eingehen. Im Gegensatz zu anderen „Derrick“-Folgen aus dieser Zeit wird man bei „Das Plädoyer“ sofort und dauerhaft in den Bann der Handlung gezogen, die mit unbestimmten Drohungen eines verbitterten Ex-Häftlings gegenüber seinem damaligen Staatsanwalt beginnt. Von drei Faktoren profitiert dieser Auftakt: erstens von der Wortgewandtheit Reineckers, die hier in geschliffenen Dialogen zum Tragen kommt (die Worte des Plädoyers kreisten jahrelang im Kopf des Verurteilten wie schwarze Vögel), zweitens vom gehobenen Ambiente fernab des Schmuddelfaktors vieler anderer Episoden und drittens von einer Besetzung, die verblüffend an frühere Folgen erinnert.

Klaus Herms Gefrierschrankauftritt als Ex-Knacki ist von der typischen diabolischen Entschlossenheit geprägt, durch die sich auch andere solche Charaktere in ähnlich gelungenen Folgen auszeichneten (z.B. Udo Vioff in „Schubachs Rückkehr“, Siegfried Lowitz in „Eine Art Mord“ oder Wolf Roth in „Der Schrei“). Dies ist insofern ungewöhnlich, als Herm als typischer Serienweichling – höchstens noch von Herbert Mensching überboten – bekannt ist, hier aber eine beeindruckende Leistung gegen sein typisches Rollenfach abliefert. Gebührend verängstigt reagiert Lambert Hamel als arbeitseifriger, aber humor- und gefühlloser Oberstaatsanwalt. Der Fall gewinnt enorm von der Konstellation, dass Kolbe zwar einerseits der Bedrohte, andererseits aber auch ein Ekelpaket vor dem Herrn ist, der andere Leute gern deligiert, ohne sich in sie hineinzuversetzen. Dies geht seiner Filmfrau Sona MacDonald dermaßen auf die Nerven, dass sie – nur um ihn zu brüskieren – Risiken eingeht, die der Folge durchgängigen Nervenkitzel bescheren.

Die Szenen in der abendlichen Volkshochschule (natürlich wieder im Bild: das Maximiliansgymnasium in der Karl-Theodor-Straße) geraten ebenso zu unheimlichen Momenten wie Ingeborg Kolbes Ausflüge in die Wohnung ihres durchtriebenen Lebensretters, der vom Schlafzimmer aus heimlich mit Lakonda telefoniert. Helmut Trunz’ Musik untermalt das Geschehen gekonnt und Theodor Grädlers Regie zeichnet sich durch die altbewährte Feinfühligkeit und Stringenz aus. Hinzu kommt die geschickte zeitige Einbindung von Derrick und Harry, deren Auftritte diesmal nicht wie sonst so oft (spielverderberisch) die spannende Exposition beenden, sondern sich mit Momenten der Anspannung im flüssigem Rhythmus abwechseln.

Es könnte also alles auf eine ziemlich perfekte „Derrick“-Folge hinauslaufen und im Prinzip bekommt man so eine auch geboten. Zumindest dann, wenn man keinen Wert auf kriminelle Härte legt. Der Fall entpuppt sich trotz seines gelungenen Gesamteindrucks im Endeffekt als harmlos, Lakondas böse Absichten fordern kein blutiges Menschenopfer. Wo der eine argumentieren könnte, Reinecker wolle vielleicht eine „humanere“ Weise aufzeigen, Rache zu üben, wird der andere vielleicht das Fehlen eines handfesten Mordes bemängeln.

Verurteilter Mörder gegen verurteilenden Staatsanwalt: 4,5 von 5 Punkten für ein erbittertes Duell, das trotz des rechtzeitigen Eingreifens von Stephan und Harry bis zum Schluss seine gefährliche Aura bewahrt. Schade nur: Bei einer solchen „Retro-Besetzung“ und einem Rückbezug auf einen Mordfall, den Derrick vor 15 Jahren bearbeitete, hätten Ringelmann und Reinecker ja Bezug auf einen echten „Derrick“-Fall von 1979 nehmen können.

Gubanov ( gelöscht )
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17.05.2017 21:30
#834 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten



Derrick: Ein sehr ehrenwerter Herr

Episode 234 der TV-Kriminalserie, BRD 1994. Regie: Zbynek Brynych. Drehbuch: Herbert Reinecker. Mit: Horst Tappert, Fritz Wepper sowie: Walter Schmidinger (Dr. Fasold), Monika Baumgartner (Rosy Steinwald), Edwin Noël (Erich Buschler), Juliane Rautenberg (Marta Killich), Gertraud Jesserer (Hanna Fasold), René Heinersdorff (Roland Fasold), Hanno Pöschl (Albert Kallus), Dirk Galuba (Alfons Schwarzer) u.a. Erstsendung: 22. April 1994, ZDF.

Zitat von Derrick: Ein sehr ehrenwerter Herr
Die zwei Prostituierten Rosy und Marta werden von Freiern zusammengeschlagen. Während Rosy, ganz der langjährige Profi, die Schattenseten ihres Berufs zu den salbungsvollen Worten des Heilsarmisten Erich mit einem Schnaps herunterspült, ist die Anfängerin Marta tief traumatisiert. Der mit dem Sozialamt kooperierende Psychiater Dr. Fasold nimmt Marta bei sich auf und versucht, sie in ein normales Leben zurückzuführen. Doch geht seine Fürsorglichkeit auch so weit, den Zuhälter von Rosy und Marta zu erschießen?

Zitat von Ulrike Kabyl: Derrick – Eine Erfolgsgeschichte des deutschen Fernsehens, Diplomica Verlag Hamburg, 2000, S. 173
Thematisch bewegt sich Reinecker zwar durch alle Höhen und Tiefen menschlichen Daseins, durch alle Ebenen populärer gesellschaftlicher Probleme. Aber auch innerhalb der Themengestaltung lässt sich Serialität finden. Jede Folge behandelt ein soziales oder psychologisches Thema. Die Kernthemen sind Rauschgiftsucht, Prostitution, vernachlässigte Kinder, Randgruppenproblematiken u.a.m. [...]. Diese Kernthemen kehren in immer neuen Varianten wieder. [...] „Derrick“ ist die Variation als Kontinuum par excellence.


So liest sich die alte Weisheit, dass Reinecker gern Aufgewärmtes auftischte, in wissenschaftlichem Jargon. Und natürlich findet sich Prostitution als Schlagwort ganz weit oben auf der Liste der wiederkehrenden Themen. Dem geschulten Zuschauer gelingt es problemlos, allein schon vom Titel „Ein sehr ehrenwerter Herr“ auf einen Fall schließen, der mit dem ältesten Gewerbe der Welt zu tun hat – insofern kommt Brynychs Rotlichtromanze, die allerdings mit einer außergewöhnlichen Einfühlsamkeit aufwartet, kaum überraschend. Straßenstrich, Zuhälterlokal und markige Typen (Galuba in speckglänzender schwarzer Lederhose und Produktionsleiter Herbert Jarczyk als fülliges Ekelpaket mit nicht minder speckglänzenden Pornolocken) werden von stilleren Momenten um die pragmatisch-schlagfertige Rosy und den selbstlosen, zum Philosophieren neigenden Gottessoldaten Erich aufgewogen.

Irgendwo in der Mitte zwischen diesen Figuren ist der zwielichtige, seinem Altruismus auch gern ’mal mit vorgehaltener Pistole nachhelfende Psychiater Dr. Fasold angesiedelt, dem Walter Schmidinger (letzter „Derrick“-Auftritt 18 Jahre zuvor in „Das Bordfest“!) einen rätselhaften, aber auch enervierend schwerfälligen Duktus verleiht. Dass er tief in den Ereignissen mit drinsteckt, ist auf mehrere Meilen gegen den Wind zu riechen – und leider liefert „Ein sehr ehrenwerter Herr“ weder echte Ablenkung von dieser Gewissheit noch eine wirklich verblüffende Auflösung.

Die Folge punktet eher mit ihrem zünftigen Flair, das durch die kulissenartig wirkenden Drehorte stellenweise an Folgen aus den 1970ern und frühen 1980ern erinnert. Im Gegensatz dazu ein glasklares Neunziger-Indiz ist das zweite Mitwirken von René Heinersdorff, der hier nach „Ein Objekt der Begierde“ schon wieder unter Brynychs Regie und schon wieder unter dem Rollenvornamen Roland zu sehen ist, diesmal aber gegelt statt mit Hornbrille auftritt. Seine angedeutete Romanze mit dem fünf nach zwölf noch eben seelengeretteten Jungcallgirl verabschiedet Juliane Rautenberg in einer wie gewohnt elegisch stummen Nebenrolle nicht nur aus der Serie, sondern gleich ganz aus ihrer kurzen TV-Karriere (die nur „Die Wicherts von nebenan“ und „Derrick“ umfasst). Brynychs griffige Inszenierung hält das nicht besonders starke Drehbuch gut zusammen, insgesamt reicht es aber zu nicht viel mehr als solidem Mittelfeld.

Wieder einmal sind die Mordopfer verdammungswürdiger als die Mörder; die Tat wird zum Befreiungsschlag, den das Publikum gutheißen soll. Diese Absolution muss wohl auch die mangelnde Sorgfalt rechtfertigen, die beim Verfassen des Scripts an den Tag gelegt wurde und die der ewige Serienstrich-Spezialist Brynych im Rahmen der Möglichkeiten routiniert ausbügelt. 3,5 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
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19.05.2017 21:45
#835 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten



Derrick: Eine Endstation

Episode 235 der TV-Kriminalserie, BRD 1994. Regie: Alfred Weidenmann. Drehbuch: Herbert Reinecker. Mit: Horst Tappert, Fritz Wepper sowie: Will Quadflieg (Robert Schreiber), Gert Baltus (Konrad Schreiber), Sissy Höfferer (Anna Kolpe), Manfred Steffen (Arno Schuster), Hannelore Hoger (Berta Sänger), Christiane Krüger (Vera Schreiber), Reinhard Glemnitz (Erich Kolpe), Eva Maria Bauer (Frau Leonhard) u.a. Erstsendung: 27. Mai 1994, ZDF.

Zitat von Derrick: Eine Endstation
Als er nach einem halbjährigen Klinikaufenthalt entlassen wird, freut sich der Großindustrielle Schreiber auf die Rückkehr nach Hause. Was er nicht geahnt hat: Seine Kinder Konrad und Anna haben sich nicht nur der Firma, sondern auch des Vermögens und des Privathauses bemächtigt und schieben ihren Vater nun ins Altersheim ab. Auf den desillusionierten Senior fällt der Verdacht, als in der Firma Schreiber plötzlich Schüsse fallen. Zwar kommt „nur“ ein Pförtner ums Leben, doch der Anschlag galt eindeutig dem treulosen Filius ...


Seit dem legendären „Kommissar“ „Tod eines Ladenbesitzers“ scheinen sich die Lebensbedingungen in bayerischen Altenheimen drastisch verbessert zu haben. Die Bewohner werden nicht mehr wie Gefängnisinsassen gehalten, dürfen kommen und gehen, wann und wie sie wollen, nach 21 Uhr noch Telefonate empfangen und sogar Sekt trinken. Und dennoch ist es für Robert Schreiber ein Schock, dass er in diese „Endstation“ – wenn auch eine ausgesprochen luxuriöse – gesteckt wird. Weniger der goldene Käfig als vielmehr die Enttäuschung, von seiner Familie hinterhältig betrogen worden zu sein, ist der Knackpunkt der Angelegenheit. Schreibers Familie erweist sich als undankbar opportunistische Baggage, was in der ausführlich geschilderten Vorgeschichte ganz hervorragend zur Geltung kommt. Sie drücken sich sogar bis zum letzten Moment davor, ihrem „entsorgten“ Familienvorstand die Nachricht von dessen Einweisung zu überbringen ...

Ein Grund für die Überzeugungskraft der Folge ist neben der einfühlsamen Weidenmann-Erzählweise (die hier verblüffend an den typischen Grädler-Stil erinnert) ihre absolut phänomenale Besetzung. Ringelmann-Stars belegen hier nicht nur die ersten drei, vier Plätze der Besetzungsliste, sondern wurden bis in die kleinen Nebenrollen hinein verpflichtet, sodass „Eine Entstation“ zu einem wahren Schaulaufen der großen Namen wurde: Will Quadflieg und Gert Baltus duellieren sich auf hohem Niveau, weitere Familienmitglieder werden von den (zu) lange abwesenden Urgesteinen Sissy Höfferer, Christiane Krüger und Reinhard Glemnitz gegeben. Hannelore Hoger begnügt sich mit dem Part der Sekretärin, während der unnachahmliche Manfred Steffen in seinem leider einzigen „Derrick“-Gastspiel als frech-verstockter Mitwisser auftrumpft und Eva Maria Bauer – nicht weit von ihrer resoluten Oberschwesternrolle in der „Schwarzwaldklinik“ – als Leiterin des Heims in Werner Kreindls Fußstapfen tritt.

Im Gegensatz zu „Tod eines Ladenbesitzers“ werden keine simplen Gut-Böse-Gegensätze bemüht. Über die reine Krawallphase ist Reinecker hinaus, die Kritik am Loswerden der Alten hat sich auf einem substanzielleren und glaubhafteren Niveau eingependelt. Dazu gehört auch, dass Robert Schreiber selbst alles andere als ein bemitleidenswertes Hascherl ist. Einen deutlichen Hang zur Großspurigkeit kann man ihm ebensowenig absprechen wie seinen Kindern – insofern scheint das Überheblichkeitsgen in der Familie zu liegen bzw. die Probleme hausgemacht zu sein. Für Quadflieg ist es eine dankbare Altersrolle, in der er die Narrenfreiheit seiner Position genüsslich auskostet und sich spitze Duelle nicht nur mit seinem luschig-lavierenden Filmsohn Gert Baltus (den Reinecker klugerweise bis zur letzten Szene am Leben ließ), sondern auch mit Derrick selbst liefert: „Ich habe Sie für einen Idioten gehalten. Ich sehe, Sie sind es nicht.“

Die „Endstation“ erhält sich bis zum Ende ihre Unvorhersehbarkeit, was der Folge im späteren „Derrick“-Universum durchaus eine Sonderstellung verleiht. Dies betrifft sowohl die Frage nach dem Mordopfer (obwohl die Schüsse in der 23. Minute fallen, ist bis kurz vorher nicht absehbar, wen sie treffen werden) als auch die nach dem Täter und nach Derricks Ermittlungsstrategie. Vieles spielt sich zwar auf dem abstrakten Dialogniveau zahlreicher 1990er-Fälle ab, dieses passt hier aber hervorragend zu den Figuren und dem Umfeld, das die Episode mit ihren eleganten Schauplätzen und der herbstlichen Lebensabend-Stimmung passt. Dazu kommen ein Duval-Score, der ausnahmsweise mit dezenten, düsteren Klängen überzeugt, sowie ein überzeugendes Finale, in dem Derrick die Zuspitzung der Ereignisse hilflos am Telefon mitverfolgen muss.

Wer hinter der „Endstation“ eine erneute Drogenfolge vermutet, darf entspannt aufatmen. Reinecker verlässt sich auf eine andere gut eingeübte Thematik, die er seit „Kommissar“-Tagen immer wieder einmal ansprach und die hier besser denn je behandelt wurde: Wohin mit den Alten? Will Quadflieg wehrt sich derart impulsiv gegen seine Abschiebung in ein Heim, dass 5 von 5 Punkten absolut verdient sind.

Gubanov ( gelöscht )
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20.05.2017 01:00
#836 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten



Derrick: Darf ich Ihnen meinen Mörder vorstellen?

Episode 236 der TV-Kriminalserie, BRD 1994. Regie: Theodor Grädler. Drehbuch: Herbert Reinecker. Mit: Horst Tappert, Fritz Wepper sowie: Stephan Orlac (Sauters), Peter Kremer (Ulrich Kemp), Eleonore Weisgerber (Renate Sauters), Joachim Bissmeier (Mirbach), Philipp Brammer (Harald Sauters), Reinhard Glemnitz (Hoss), Karlheinz Vietsch (Göbel), Werner Asam (Schönlechner) u.a. Erstsendung: 24. Juni 1994, ZDF.

Zitat von Derrick: Darf ich Ihnen meinen Mörder vorstellen?
Das passiert Derrick zum ersten Mal: Ein Todgeweihter will ihm seinen Mörder vorstellen – ganz ohne Angst und Panik, als handle es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt. Unternehmer Sauters ist davon überzeugt, dass sein Kompagnon Kemp ihn töten will. Tatsächlich liegt Sauters bald mit zwei Kugeln in der Brust in seiner Jagdhütte und alle Spuren führen zu Kemp. Das Seltsame: Derrick, der das Opfer und seinen angeblichen Mörder schon vorher kannte, ist der einzige, der von Kemps Unschuld überzeugt ist!


Und schon wieder wartet der in Box 16 vertretene Doppeljahrgang 1993/94 mit einer ausgesprochen starken Folge auf, die im Gegensatz zu ihrer überzeugend konformistischen Vorgängerepisode durch und durch ungewöhnlich ist. Das beginnt schon in den ersten Sekunden, die nicht nur bereits Derrick bei einem privaten Klavierkonzert zeigen, bevor von einem Fall überhaupt die Rede sein kann, sondern in denen Grädler darüber hinaus spielerisch die gewohnten Vorspann-Strukturen aufbricht: Zuerst blendet der Episodentitel auf, erst später werden Serienschriftzug und Fanfare nachgereicht.

Doch was ist eigentlich wichtig in #236? Es handelt sich gewissermaßen um einen Fall, bei dem alles Erdenkliche auf den Kopf gedreht wurde. Das Opfer warnt vor seinem Ableben vor seinem Mörder, Derrick erhält vorab einen Einblick in die Psyche der Betroffenen, die wesentlichen Rückblenden und Informationen werden dem Zuschauer vor Begehen des Mordes zur Verfügung gestellt, die sich anschließende Ermittlung trägt nicht zur Klärung bei, sondern gestaltet sich als zunehmender Kampf gegen Windmühlen. „Darf ich Ihnen meinen Mörder vorstellen?“ endet mit einem offenen Schluss und einem Misserfolg für den Oberinspektor, was dem (alp-)traumhaften Flair der Episode sehr zupass kommt. Der Mordfall Sauters wird in Reineckers fähigen Händen zum Demonstrationsstück für das Böse im Menschen, für Rücksichtslosigkeit und Egomanie, für das Zurückstecken von Gefühlen und das Verfolgen einer verzweifelten Selbstrettung.

Alle diese Attribute deutet Stephan Orlac in der Rolle des Mordopfers nur dezent an. Hier macht sich Grädlers gutes Gefühl für Schauspielerführung bemerkbar: Zunächst wirkt der geschwätzige Herr Sauters wie ein wirrer Aufschneider, doch nach und nach enthüllt sein Charakter Schichten der Bösartigkeit bis hin zu reiner Menschenverachtung. Peter Kremer spielt eine Rolle, die oberflächlich genauso geartet ist (wie der Lehrmeister, so der Emporkömmling); doch regelrecht hypnotische Rückblenden, die mit Voiceover-Erzählungen versehen wurden, zeigen bald die labile Seite von Ulrich Kemp auf. Langsam beschleicht den Zuschauer der Verdacht, dass das Opfer vielleicht der Täter und der Täter vielleicht das Opfer sein könnte – auch hier eine hochinteressante Variation üblicher linearer Krimistrukturen. Die übrigen Darsteller erfüllen Handlangerfunktionen, die lediglich der Funktionserfüllung oder Ausschmückung der Geschichte dienen – abgesehen natürlich von dem im Alter immer weiter in das Idealbild des Verstandsmenschen hineinwachsenden Horst Tappert, dessen unbändiger Einsatz für die Wahrheit hier nicht von Erfolg gekrönt zu sein scheint.

Eventuell läuft „Darf ich Ihnen meinen Mörder vorstellen?“ einen Hauch zu langsam an. Gibt es erst einmal eine Leiche, rattern die Maschinen auf Hochtouren. Doch bis es soweit ist, muss man als Zuschauer die Bereitschaft aufbringen, sich auf den skurrilen Beginn einzulassen und Schilderungen zu verfolgen, deren Bedeutungen sich erst im späteren Verlauf der Handlung vollständig erschließen. Es wäre dennoch vermessen, hier wie bei anderen Folgen nach Straffungen zu verlangen, denn im Gegensatz zu inhaltlich schwächeren Episoden hat man es nicht mit Längen, sondern lediglich mit einer unkonventionellen Herangehensweise zu tun. Dass für diese Folge gerade Theodor Grädler ausgewählt wurde und dass er sie mit Bravour umsetzte, sollte eigentlich Beweis genug dafür sein, dass der Regisseur auch in den späten Jahren nicht nur zu (langweiliger) Standardware fähig war.

Experimente wie dieses erhalten dem 1990er-Jahre-„Derrick“ die Frische. Ein Fall von ungewöhnlicher Bitterkeit, überzeugend umgekrempelt. Starke 4,5 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
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21.05.2017 21:45
#837 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten



Derrick: Gib dem Mörder nicht die Hand

Episode 237 der TV-Kriminalserie, BRD 1994. Regie: Theodor Grädler. Drehbuch: Herbert Reinecker. Mit: Horst Tappert, Fritz Wepper sowie: Wolf Roth (Gerhard Schumann), Till Topf (Max), Klaus Behrendt (Walter Schumann), Liane Hielscher (Mathilde), Hans Peter Hallwachs (Oskar Demmler), Stefan Wigger (Rudolf Kaspers), Christine Merthan (Erna Kaspers), Monika Baumgartner (Hilde Dumaske) u.a. Erstsendung: 8. Juli 1994, ZDF.

Zitat von Derrick: Gib dem Mörder nicht die Hand
Nachdem er in Ostasien sein Glück gemacht hat, kehrt Gerhard Schumann zu seiner Familie zurück, die in bescheidenen Verhältnissen lebt. Der „verlorene Sohn“ hingegen kann sich puren Luxus leisten, denn Mitglieder der Triaden, der chinesischen Mafia, kennen keine Geldsorgen. Dummerweise sind Gerhards delikate „Geschäftsbeziehungen“ auch seinem ehemaligen Kumpel Oskar zu Ohren gekommen, der die Geschichte an eine Zeitung verkaufen will. Bevor das geschieht, muss Gerhard Oskar zum Schweigen bringen. Ein Händedruck mit einem vergifteten Ring genügt dafür völlig ...


Der größte Fehler von „Gib dem Mörder nicht die Hand“ besteht vielleicht darin, dass die Episode ihren exotisch-gefährlichen Hintergrund zu wenig ausspielt. Obwohl der Plot sich für einen massiven Actionanteil und gruseliges China-Brainwashing im Stile des guten alten Fing-Su-Clans der „freudigen Hände“ anbieten würde, halten sich sowohl die Einblicke in als auch die Informationen über die Triaden-Organisation in sehr engen Grenzen; das berüchtigte Wort allein soll Angst heraufbeschwören und dem Zuschauer die Skrupellosigkeit verdeutlichen, mit der ihr europäischer Abgesandter in den gezeigten 58 Minuten agiert. Das funktioniert auch recht gut, allerdings unterscheidet sich die Spannung, die die Folge aufbaut, nicht wesentlich von hausbackeneren Fällen, weil die Aufmerksamkeit sich auch hier hauptsächlich auf ein Familiendrama konzentriert. Weniger die Auseinandersetzung zwischen Gerhard und Oskar und die Ungeheuerlichkeit der Entdeckung des Opfers machen den Großteil des Reizes aus, sondern vielmehr die Frage, ob die kräftig mitwissende Familie durch Gerhards großzügige Finanzspritze erfolgreich zum Schweigen gegenüber der Polizei verleitet werden kann.

Mit diesem Clou gelingt es Reinecker, den überheblichen Triaden – eine Musterrolle für den arrogant wie zu besten „Höllensturz“-Zeiten aufspielenden Wolf Roth – endlich auch einmal in eine gewisse Verlegenheit zu bringen. Schumann, der sonst alle Probleme mit Geld und Kaltblütigkeit aus der Welt schafft, ist im Kampf um seine Haut schließlich auf die Aussagen einer Familie angewiesen, die er (zu) lange ignoriert hat. In veritablen Loser-Rollen, die den zweifelhaften Erfolg des unmoralischen Aufsteigers herrlich konterkarieren, treten alte Bekannte vom Schlage eines Klaus Behrendt, Till Topf oder Stefan Wigger auf – Personalien, die das Geforderte mit großer Überzeugungskunst abliefern.

Derrick arbeitet sich dann auch eher an den Verwandten als an Gerhard Schumann ab, wobei immerhin eine hervorragende Szene in dessen Hotelzimmer die Eiszeitstimmung zwischen den Alter Egos von Tappert und Roth kurz und bündig verdeutlicht und Derricks Verdacht im Handumdrehen zu einer Gewissheit anwachsen lässt. Vor diesem Hintergrund hätte man dem selbstbewussten Schurken eine überzeugendere Überführung gewünscht, als in der letzten Szene – eher notdürftig – angedeutet wird. Doch man verlässt die Folge trotzdem nicht unzufrieden: Schon der Umstand, dass Derrick Schumann überhaupt verhaftet, verdeutlicht die Integrität des Oberinspektors gegenüber seinem Beruf, nachdem ein diplomatischerer Kollege nicht nur vorgeschlagen hatte, den dicken Fisch davonschwimmen zu lassen, sondern sogar noch die Dreistigkeit besaß, Derrick zu einer Entschuldigung zu raten. Dass es so weit nicht kommt, versteht sich von selbst. Auch nach zwanzig Jahren Mordkommission, wie Tappert ganz richtig mitzählt, will die Inspektorenseele natürlich noch ruhig schlafen ...

Sching, schang, schong, Triadenkiller aus Hongkong. Wolf Roth stemmt eine schmierig-überlegene, von Anfang an offengelegte Mörderrolle ganz nach dem Vorbild der ersten „Derrick“-Folgen, überschätzt aber die Wirkkraft seiner Blutgeldverlockungen. Derricks insistierende Zeugenbefragungen zahlen sich diesmal wieder aus; dieser Fall saniert die nach dem letzten Fall etwas gesunkene „Derrick“-Aufklärungsquote wieder. 4 von 5 Punkten.

PS: Zwei Eintragungsungenauigkeiten sind in Verbindung mit dieser Folge zu erwähnen. Einmal findet sie sich im Folgenregister des lesenswerten Aufsatzes von Andreas Quetsch fälschlicherweise unter dem fatal bejahenden Titel „Gib dem Mörder die Hand“ (wer diesem Ratschlag folgt, ist entweder schon ein toter Mann oder heißt Till Topf). Außerdem fehlt Herbert Reineckers Name im Abspann. Nach der Einblendung des Episodentitels folgt sofort die Tafel „Stephan Derrick: Horst Tappert“, vom Drehbuchautor lässt sich keine Spur finden (von Triaden verschleppt?).

Gubanov ( gelöscht )
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26.05.2017 00:45
#838 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten



Derrick: Gesicht hinter der Scheibe

Episode 238 der TV-Kriminalserie, BRD 1994. Regie: Dietrich Haugk. Drehbuch: Herbert Reinecker. Mit: Horst Tappert, Fritz Wepper sowie: Klausjürgen Wussow (Hugo Zeller), Evelyn Opela (Hanna Zeller), Muriel Baumeister (Monika Zeller), Philipp Moog (Adrian), Jacques Breuer (Arno Beckmann), Winfried Glatzeder (Kubanke), Dietrich Haugk, Klaus Konczak u.a. Erstsendung: 5. August 1994, ZDF.

Zitat von Derrick: Gesicht hinter der Scheibe
„Fragen Sie Hugo Zeller, ob er weiß, wo seine Tochter ist“, fordert eine anonyme Frauenstimme den Polizeinotruf auf. Auf diesen Anruf hin entdeckt Zeller die Leiche seiner Tochter im Büro seiner Firma. Sein Schwiegersohn in spe und ein Geschäftspartner namens Kubanke scheinen mehr zu wissen, als sie der Polizei mitteilen wollen. Einen kooperativeren Gesprächspartner findet Derrick in dem Filmstudenten Adrian, der die verstorbene Monika Zeller als Hauptdarstellerin für ein Filmprojekt kennengelernt hatte ...


Dietrich Haugk meldet sich nach einer siebenjährigen „Derrick“-Pause mit einer soliden Folge und einem Cameo-Auftritt zurück, in dem er als Dozent an der Filmhochschule das Werk von Bernd Eichinger auseinandernimmt, während im dem Vorführraum vorgelagerten Sekretariat Filmplakate von „Man spricht deutsh“ mit Gerhard Polt, Stephen Kings „Schlafwandler“ und dem Mel-Brooks-Musical „Die Macher“ hängen. Abgesehen von diesen kleinen cineastischen Exkursen bewegt sich die Episode auf gediegenem Grünwald-Parkett, das vor allem in den Szenen in der edlen Zeller-Villa gut zur Geltung kommt. Außenaufnahmen entstanden unter anderem auf dem verschneiten Rollfeld des Exflughafens Riem.

Storytechnisch bietet Reinecker wenig Neues: Der Tod des Mädchens bildet den Auftakt zu einer Geschichte, in der die Verstorbene als bewundernswert ausdrucksvolles Wesen in höchsten Tönen dauergelobt wird – insbesondere von Endlosstudent Philipp Moog, der hier einen seiner stereotypsten Auftritte ablegt und vom Drehbuch zu so mancher Stilblüte genötigt wird. Klausjürgen Wussow und vor allem Jacques Breuer bewegen sich dagegen äußerst angenehm im Zwielicht moralischer Zweifel als verstocktes Vater-und-Verlobter-der-Tochter-Gespann, dem das trigema-artige Bekleidungsunternehmen mehr am Herzen zu liegen scheint als die soeben verlorene Tochter. Bei Winfried Glatzeders schmierig-kuriosem Geschäftspartner weiß man von Anfang an, dass man von dieser Rolle Bösartigkeiten und Verwicklungen erwarten darf; Glatzeder erfüllt diese Aufgabe mit Bravour – es ist immer wieder ein Vergnügen, ihn auf beiden Seiten des Rechts in Krimiserien zu sehen.

Es sind vor allem der ungewöhnliche Einstieg mit dem Anruf in der Notrufzentrale und dem daraufhin spannend inszenierten Auffinden der Leiche sowie das wuchtig-ergreifende Ende, die der Folge einen Stempel des Besonderen aufdrücken und die belegen, dass mit Haugk wieder einmal ein unverbrauchter, aber dennoch kundiger und stilsicherer Regisseur am Werke war. Damit zählt das „Gesicht“ trotz stellenweise arg wortlastigen Mittelteils zu den besonders unterhaltsamen und atmosphärisch dichten Folgen. Auf ganz wilde Exzesse wie die Philosophiererei über „das in sich, das selber einen Wert hat, einen großen, einen mittleren oder einen kleinen“ hätte man als Zuschauer natürlich gut verzichten können – es fällt aber nicht so störend ins Gewicht wie z.B. bei „Billies schöne, neue Welt“.

Einen würdigen „Derrick“-Schwanengesang gibt Ringelmann-Gattin Evelyn Opela, die gemeinsam mit Klausjürgen Wussow der Folge einen edlen Anstrich verleiht. In einer tragischen Mutterrolle nicht unähnlich jener, die sie schon in „Judith“ auf sich nahm, spielt sie glaubwürdig und dezent. Ihr stilles Leid wird der prosaisch-verächtlichen Gleichgültigkeit der Jacques-Breuer-Rolle gekonnt gegenübergestellt und hätte ganz bestimmt auch für mehr Szenen getaugt, falls man bei Moogs „ein Mensch auf der Suche nach seinem Geheimnis“-Kladderadatsch rigoroser die Schere angesetzt hätte.

Das beliebte Reinecker-Mädchen, schockierend aus der Blüte ihres Lebens gerissen, stellt sich in „Gesicht hinter der Scheibe“ nicht nur in Form einer überlebensgroßen Fototapete in den Mittelpunkt. Haugks „Derrick“-Wiedereinstieg krankt zwischenzeitlich ein wenig an der üblichen zwanghaften Vergötterung der in Rückblenden ausführlich kennenzulernenden Toten, hat darüber hinaus aber sehr solide Spannung und wirklich gute Auftritte von Wussow, Opela, Breuer und Glatzeder zu bieten. 4 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
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28.05.2017 13:45
#839 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten



Derrick: Der Schlüssel

Episode 239 der TV-Kriminalserie, BRD 1994. Regie: Zbynek Brynych. Drehbuch: Herbert Reinecker. Mit: Horst Tappert, Fritz Wepper sowie: Sunnyi Melles (Susanne Howald), Sky Dumont (Howald), Eva Kotthaus (Hanna Labö), Pierre Franckh (Kromann), Gundis Zámbó (Marianne Kork), Dieter Eppler, Holger Petzold, Gaby Herbst u.a. Erstsendung: 9. September 1994, ZDF.

Zitat von Derrick: Der Schlüssel
Dass nur Schwachköpfe keine Feinde haben, entgegnet der todesmutige Lebemann Howald dem besorgten Oberinspektor Derrick, der ihn darüber informiert, dass eine anonyme Morddrohung gegen ihn eingegangen ist. Und tatsächlich lässt Howalds Ableben nicht lange auf sich warten – in seiner Auffahrt wird er von einer tödlichen Kugel getroffen. Die Analyse derselben ergibt: Mit demselben Gewehr wurden schon mehrere andere Personen erschossen, die mit Howald in keiner Verbindung stehen. Geht ein Serienkiller in München um? Wie kommt es dann, dass Derrick meint, in der Witwe des Toten die anonyme Anruferin erkannt zu haben?


Schaut man auf 20 Jahre „Derrick“ zurück (die kommende Folge „Das Floß“ wird das zweite Ausstrahlungsjahrzehnt, vom Oktober 1974 bis Oktober 1994, vervollständigen), so haben sich zwei Beteiligte ganz besonders positiv entwickelt. Sowohl Horst Tappert, der sich vom ruppig-coolen Choleriker zum weltmännischen Botschafter der Verbrechensbekämpfung wandelte, als auch Zbynek Brynych, dessen markanter Stil der Serie erhalten blieb, sich im Laufe zahlreicher Verpflichtungen jedoch mit einer deutlich besser konsumierbaren Handwerklichkeit als noch in seinen ZDF-Anfangsjahren ergänzte, bewahrten die Serie davor, zu verkopfen und auszutrocknen, weil sie trotz der langen Laufzeit nie müde wurden, Ungewöhnliches zu wagen und sich dabei selbst treu zu bleiben. Nun nimmt Zbynek Brynych mit „Der Schlüssel“ Abschied von „Derrick“ – wohl einen erzwungenen, denn weniger als ein Jahr später, im August 1995, starb Brynych in Prag. Sein Derrick’scher Schwanengesang zeigt die Fähigkeiten des Tschechen noch einmal von ihrer besten Seite und räumt dem anderen Musterschüler der Serie, Horst Tappert, großen Raum für eine besonders reflektive, ergreifende Performance in seiner Dauerrolle ein:

Zitat von Andreas Quetsch: Der Mensch und die Moral, in „Augenblick 30: Gesetz & Moral – Öffentlich-rechtliche Kommissare“, Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, 1999, S. 46
Die erste Szene in Der Schlüssel zeigt den im Büro sitzenden Derrick. Das Telefon klingelt, er nimmt den Hörer ab, die Kamera zoomt auf Nahaufnahme. Derrick blickt direkt in die Kamera und spricht zu dem Fernsehzuschauer: „Mein Name ist Derrick. Was kann ich für Sie tun?“ In diesem Anfang deutet sich schon an, dass Derrick mehr Aufgaben hat als ein normaler Oberinspektor der Mordkommission. Anders als in Fernsehserien üblich, sucht Derrick den direkten Zugang zum Fernsehpublikum [...]. Die Wichtigkeit der Figur wird auch durch das folgende Reinecker-Bekenntnis untermauert: „Mit Derrick drücke ich viel aus von dem, was ich selber denke.“


Während der Oberinspektor sonst oft als stiller, manchmal zynischer Beobachter auftritt, erhält er hier die Möglichkeit, sich, desillusioniert von seinem Beruf, über den (Zu-)Stand des Verbrechens in der Welt zu echauffieren. Sowohl der allgemeine Anstieg der Verbrechen als auch das spezielle, hier in der Folge gezeigte, setzen Derrick sichtlich zu. Wer ihm Unpersönlichkeit vorwirft, sollte sich „Der Schlüssel“ ansehen, um zu erkennen, dass Derrick sich emotional stark für Betroffene von Verbrechen und natürlich für die Opfer engagiert, was in diesem Fall in einem bärenstarken Zusammenspiel Tapperts mit Gaststar Sunnyi Melles resultiert. Deren Beteiligung am Mord an ihrem Gatten ist schnell ausgemachte Sache und wie ein Raubtier gibt Derrick die Fährte nun nicht mehr auf, heftet sich an die Verdächtige, obwohl ihm wechselnde Regungen wie Mitgefühl und Sympathie, dann wieder Abscheu und Aufregung seine Aufgabe nicht leicht machen.

Das latente „Weltschmerzflair“ der Brynych’schen Abschiedsfolge wird von der Musikuntermalung perfekt aufgefangen. Frank Duval gelang hier noch einmal ein exzellentes Spätwerk, das sich nicht nur durch zuckersüße Wiegenliedmelodie, sondern vor allem durch einen aussagekräftigen Text auszeichnet. In seinem leider unveröffentlicht gebliebenen „The Last Dance“ singt Duval selbst – auch mit einer kultigen und durchaus tragenden Rolle vor der Kamera versehen – von der Apokalypse: „Schlaf mein Kind, die Welt ist krank“, „Miau, mioh, draußen brennt es lichterloh“ und „Bing, bang, das ist der Abgesang“. Die Theatralik dieser Zeilen findet sich auch in Melles’ Auftritt wieder – alles fügt sich auf beeindruckende Weise zusammen und Elemente, die für sich genommen irritierend wirken können, regen in ihrer Gesamtheit zum Nachdenken und Mitfiebern an.

So musste ich diesen „Derrick“ gleich zweimal hintereinander sehen – ein ungewöhnliches Bedürfnis, das die Tiefe des vorliegenden Falles aufzeigt. Zwar geht Reinecker in der von ihm gewohnten Form wieder einmal über ein paar eigentlich ganz interessante Routineermittlungen hinweg: Die Morde an den anderen Herren werden in einer nüchternen Polizeibesprechung mündlich nebenbei abgehandelt und alle relevanten Aufklärungsinformationen stammen von deus ex machina Pierre Franckh, der in einer ruhig-besonnenen Rolle als Polizeispitzel seinen Wiedereinstand nach einer überlangen Pause feiert. Doch ganz ehrlich: Was hätte noch ein „normaler“ Serienmörder-Fall schon hergegeben? Die abseitige, sentimentale Aufmachung, für die sich das Team stattdessen entschied, kann als ein spannender Außenseiterkrimi und ein würdiges Denkmal für sowohl Brynych als auch Tappert betrachtet werden. Ein (weiteres) Highlight des Jahrgangs 1994!

Die thematisierten bezahlten Auftragsmorde dürften für das Jahr 1994 keineswegs ein kriminalhistorisch so bahnbrechender Richtungswechsel sein, wie Reinecker es seinem Publikum weismachen möchte. Er als Verfechter ehrlicher Arbeit störte sich offenbar am meisten daran, dass die Planer eines Mordes ihr ureigenes Handwerk nun auch „outsorcen“ konnten, um sich nicht die Finger schmutzig machen zu müssen. Demgegenüber steht Derrick als Arbeitstier bis zur körperlichen und emotionalen Erschöpfung. Zwischen Tappert und Gastdarstellerin Melles entbrennt unter dieser Prämisse ein Duell der Gegensätze, dessen sich die Folge auf künstlerisch weit überdurchschnittlichem Niveau annimmt. 5 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
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29.05.2017 14:00
#840 RE: "Derrick" oder: das andere Konzept Zitat · Antworten



Derrick: Das Floß

Episode 240 der TV-Kriminalserie, BRD 1994. Regie: Helmuth Ashley. Drehbuch: Herbert Reinecker. Mit: Horst Tappert, Fritz Wepper sowie: Sona MacDonald (Elvira Nolte), Will Danin (Hans Nolte), Hermann Lause (Bender), Christina Plate (Anna), Oliver Hasenfratz (Uli), Edwin Noël (Borchert), Manfred Zapatka (Wexler), Irene Clarin (Bettina) u.a. Erstsendung: 7. Oktober 1994, ZDF.

Zitat von Derrick: Das Floß
Anna Bender treibt orientierungslos durch die Welt, wie verloren auf einem großen Meer. Ihr Vater, der sie in ihrer Jugend selbst missbraucht hatte, verkauft sie nun für „Herrenabende“ an seinen Arbeitgeber Hans Nolte, um seine Position im Betrieb zu sichern. Nach einer dieser Liebesnächte, an der auch Noltes Kompagnon Wexler beteiligt war, wird Nolte in seiner Wohnung erschossen. Seine Frau, die von den Eskapaden ihres Mannes wusste, ist nicht gerade erschüttert. Anna scheint die Sache mehr mitzunehmen – doch da ist ja auch noch ihr Freund Uli, mit dem sie wie auf einem einsamen Floß sitzt ...


Die Besprechung enthält leichte Spoiler.

Dass Derrick in seinem Beruf mit den Schlechtigkeiten der Welt konfrontiert wird, ist nachvollziehbar. Dass man dieses pessimistische Bild von den Abgründen der menschlichen Gesellschaft aber mit sehr unterschiedlichem Erfolg nachzuzeichnen versuchte, kann man an kaum einem Folgendoppel so schön erkennen wie an #239 und #240. Während „Der Schlüssel“ in seiner düsteren Grundstimmung ernstlich ergreifende Töne anschlägt, scheint es dem „Floß“ nur ums Greinen um des Greinens willen zu gehen. Sowohl der Einblick in die zerbrochene Familie Bender als auch in den Lust-Laster-Läster-Haushalt der Noltes erzielen nicht den gewünschten Effekt, sondern erwecken das Gefühl, als wollten Regisseur und Autor die Betroffenen vorführen. Dies betrifft sowohl Leidensfiguren wie die apathische Anna und die kratzbürstige Frau Nolte als auch die andere, die verursachende Seite des Milieuspektrums, auf der Vater Bender und Lustgreis Wexler von Derrick und dem „Gewissen der Folge“ – Edwin Noël in der Rolle eines aufdringlichen Sozialarbeiters – mit erhobenem Zeigefinger gelehrmeistert werden.

Zwischen den teils überzeichnet wirkenden Gemütszuständen von innerlicher Aufgabe bis zu emanzipatorischer Rebellion wirken die Charaktere teils unwirklich, wobei rein schauspielerisch an den Leistungen des Ensembles wenig zu kritisieren ist. Insbesondere Sona MacDonald drückt der Folge ihren Stempel auf, während Christina Plate als „armes Reinecker-Mädchen“ das Verlangte abliefert, aber weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Der ewig schmierige Hermann Lause (wir erinnern uns seiner mit Schrecken aus dem „Derrick“-Alptraum „Mozart und der Tod“) gleicht im wahrsten Sinne des Wortes erschreckend Karl Renars früheren Serienauftritten. Kleinrollen füllen Manfred Zapatka und Oliver Hasenfratz sowie Cordula Trantow und Irene Clarin kompetent aus – Letztere zaubert diesmal aus ihrem Auftritt ein kleines Kabinettstück (es ist entweder hit or miss bei ihr, möchte ich meinen).

Gerade diese in Erinnerung bleibende Szene mit Clarin, in der sie sich von einem ahnungslosen Frauchen in Sekundenbruchteilen zur gerissenen Mitwisserin wandelt, sorgt allerdings für gehörige Verwirrung: Mit ihrem Auftritt wird dem Zuschauer unmissverständlich suggeriert, in Bettina Wexler die Mörderin Noltes vor sich stehen zu sehen. Dass dem Publikum in der Schlussszene dann ohne jede Erklärung ein Geständnis aus einer anderen Richtung um die Ohren gehauen wird, wirft die Frage auf, ob es sich hierbei um eine ungeschickte Inszenierung oder um ein beabsichtigtes Ablenkungsmanöver handelt. Zugunsten der Folge möchte ich Letzteres annehmen, denn das würde dem „Floß“ eine Qualität verleihen, die allein der einseitige Kriminalfall nicht hergibt.

Zwar kombiniert die Folge gelungen die „Oben- und Unten-Milieus“ der Benders und Noltes, das allein reicht aber nicht aus, um dem konstruierten Fall Leben einzuhauchen. Weil es zu morallastig unterwegs ist, vergeudet „Das Floß“ einige gute Darstellerleistungen zum Erzählen einer eher überflüssigen Geschichte. 3 von 5 Punkten.



Nach einer Schwächephase zu Beginn der 1990er Jahre rappelt sich „Derrick“ wieder merklich auf. Reinecker konzentriert sich – vielleicht auf Anraten von Ringelmann und Tappert? – wieder tendenziell stärker auf Verbrechen als auf Moralfragen und belehrt damit die Prinzip-Kritiker von „Derrick“ eines Besseren. Der Jahrgang 1993/94 steckt voller guter Folgen, die teilweise typische Themen aufgreifen („Eine Endstation“, „Die Nacht mit Ariane“, „Das Plädoyer“), teilweise experimentelle Wege gehen („Der Schlüssel“, „Darf ich Ihnen meinen Mörder vorstellen?“). Horst Tappert ist stark wie eh und je und obwohl Fritz Weppers Part mittlerweile auf ähnliche Stichwortgeber-Auftritte beschränkt ist wie frühere Mini-Assistenten vom Schlage eines Schröder oder Echterding, stellt der pragmatische Harry für „seinen“ idealistischen Vorgesetzten doch eine nicht zu vernachlässigende Stütze dar. Insgesamt schneidet Box 16 denkbar knapp unter 4 Durchschnittspunkten pro Folge ab – so gut war keine Box mehr seit #11. Im Schnitt platzieren sich die letzten 15 Fälle bei mir sogar vor denen der 70er-Jahre-Boxen 2 und 5.

Platz 01 | ★★★★★ | Folge 235 | Eine Endstation (Weidenmann)
Platz 02 | ★★★★★ | Folge 239 | Der Schlüssel (Brynych)
Platz 03 | ★★★★★ | Folge 229 | Die Nacht mit Ariane (Gräwert)

Platz 04 | ★★★★☆ | Folge 236 | Darf ich Ihnen meinen Mörder vorstellen? (Grädler)
Platz 05 | ★★★★☆ | Folge 228 | Melodie des Todes (Weidenmann)
Platz 06 | ★★★★☆ | Folge 233 | Das Plädoyer (Grädler)

Platz 07 | ★★★★★ | Folge 238 | Gesicht hinter der Scheibe (Haugk)
Platz 08 | ★★★★★ | Folge 226 | Zwei Tage, zwei Nächte (Brynych)
Platz 09 | ★★★★★ | Folge 237 | Gib dem Mörder nicht die Hand (Grädler)

Platz 10 | ★★★☆★ | Folge 227 | Nachtvorstellung (Ashley)
Platz 11 | ★★★☆★ | Folge 234 | Ein sehr ehrenwerter Herr (Brynych)

Platz 12 | ★★★★★ | Folge 231 | Das Thema (Weidenmann)
Platz 13 | ★★★★★ | Folge 240 | Das Floß (Ashley)
Platz 14 | ★★★★★ | Folge 232 | Nachts, als sie nach Hause lief (Ashley)

Platz 15 | ★★☆★★ | Folge 230 | Ein Objekt der Begierde (Brynych)

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