Maigret kennt kein Erbarmen (Maigret et l’affaire Saint-Fiacre)
Kriminalfilm, FR / IT 1959. Regie: Jean Delannoy. Drehbuch: Jean Delannoy, Rodolphe-Maurice Arlaud (Buchvorlage, 1932: Georges Simenon). Mit: Jean Gabin (Kommissar Jules Maigret), Michel Auclair (Maurice de Saint-Fiacre), Robert Hirsch (Lucien Sabatier), Michel Vitold (Jodet, Priester), Valentine Tessier (Gräfin de Saint-Fiacre), Camille Guérini (Gaulthier), Serge Rousseau (Émile Gaulthier), Paul Frankeur (Dr. Bouchardon), Jacques Morel (Anwalt Mauléon), Jacques Marin (Albert, Chauffeur) u.a. Uraufführung (FR): 2. September 1959. Uraufführung (BRD): 16. Oktober 1964. Eine Produktion von Filmsonor / Intermondia / Cinetel Paris und Pretoria Film / Titanus Rom.
Zitat von Maigret kennt kein ErbarmenNach vielen Jahren kehrt Maigret in sein Geburtsdorf zurück. Die Gräfin von Saint-Fiacre, jenem Schloss, auf dem sein Vater Gutsverwalter war, wird anonym mit dem Tod bedroht und tatsächlich stirbt sie in der Aschermittwochsmesse. Maigret kommt bald dahinter, dass eine Zeitungsfehlmeldung, die den Selbstmord ihres Sohnes verkündet, in ihr Gesangbuch gelegt wurde – zuviel für das schwache Herz der Gräfin. Um das schmale Erbe und das dem Ausverkauf preisgegebene Schloss streiten sich nun der junge Graf und der nicht weniger leichtlebige Sekretär der Toten. Ist einer von ihnen der feige Mörder?
Klamm kriecht die Februarkälte an den Schauspielern hoch – das spürt man förmlich, wenn man „Maigret kennt kein Erbarmen“ schaut und Simenons Pfeife rauchender Ermittler das zentralgeheizte Paris gen zentralfranzösische Provinz verlässt. Mäntel werden ganz gern auch in den Zimmern des Schlosses Saint-Fiacre getragen und in der Dorfkirche wärmt Maigret sich am Ofen, der nahe der letzten Sitzbankreihe aufgestellt ist. Gespiegelt wird diese unwirtliche Witterung in den Charakteren, die die Geschichte als Verdächtige bevölkern und die ganz den maigret-typischen Merkmalen hedonistischer Ekelpakete entsprechen. Insbesondere Michel Auclair als Sohn der Toten und Robert Hirsch als ihr Privatsekretär zeichnen üble parasitäre Porträts seelenkalter Profiteurstypen, die Maigrets Kindheitsfreundin ausnahmen wie eine Weihnachtsgans. Man traut ihnen folglich alles zu – dem labil-kindlichen Lucien Sabatier nicht weniger als dem großspurigen Maurice.
Was für den Ermittler mit dem Treffen mit der liebenswürdigen Gräfin als anrührender Ausflug in die eigene Vergangenheit beginnt, offenbart bald Schattenseiten, da der Verfall der ehemaligen Pracht unverkennbar ist. Die kahlen Räume des Schlosses, deren Schätze bereits ebenso wie umliegende Ländereien an verschiedenste Antiquitätenhändler und Bodenspekulanten verhökert wurden, sprechen eine triste Sprache, die sich mit den ohnehin einfachen ländlichen Dekors in der Kirche, dem Dorfladen oder dem Verwalterhäuschen zu einer wirkungsvollen Atmosphäre ergänzt. Vor ihr brilliert Jean Gabin als latent enttäuschter Maigret, der am Ende über die Hinterlist des Täters in nachvollziehbare Rage gerät und in diesem Zuge nochmal ganz starke schauspielerische Akzente setzt.
Im Gegensatz zum Vorgängerfilm, der sehenden Auges in eine vorangekündigte Tragödie mündet, handelt es sich bei „Maigret kennt kein Erbarmen“ um einen veritablen Whodunit, der erst in den letzten Minuten seine Auflösung im Rahmen einer fast schon christie-esken Versammlung aller Verdächtigen erfährt. Bis dahin setzt Maigrets verbissene Suche nach Spuren – obwohl er offiziell gar nicht zuständig ist und es sich ohnehin nur seiner Auffassung nach um einen Mord handelt – das Spannungskonstrukt betont langsam, aber unaufhörlich aus verschiedenen Puzzlestücken zusammen, was der Katholische Filmdienst nicht unrichtig als „anregende[n] kriminalistische[n] Denksport“ und als „Musterbeispiel eines filmisch erzählten Kriminalromans alten Stils“ bezeichnete (Quelle).
Vor dem Hintergrund der erstarkenden nouvelle vague mag „Maigret kennt kein Erbarmen“ vergleichsweise altmodisch wirken, doch gereicht dies dem Film, bei dem es sich schließlich um die Adaption eines Romans von 1932 handelt, in gewissem Maße zur Ehre. Die starke Dialoglastigkeit der Delannoy-Inszenierung wird den Simenon’schen Qualitäten durchaus gerecht, sodass man auch hier von einer geglückten Umsetzung sprechen kann.
Noch stimmungsvoller als sein Vorgängerfilm, wenngleich vielleicht etwas konservativer und psychologisch unwahrscheinlicher begleitet der zweite Gabin-Maigret seinen Hauptdarsteller auf sehr persönlichen Pfaden, die Vergänglichkeit und Verlust verdeutlichen. Erneut arbeitet sich Gabin an einigen stark gespielten Widersachern ab, deren Dreidimensionalität weit über durchschnittlicher Krimikost anzusiedeln ist.
Fahrstuhl zum Schafott (Ascenseur pour l’échafaud)
Kriminalfilm, FR 1957. Regie: Louis Malle. Drehbuch: Roger Nimier, Louis Malle (Buchvorlage: Noël Calef). Mit: Jeanne Moreau (Florence Carala), Maurice Ronet (Julien Tavernier), Georges Poujouly (Louis), Yori Bertin (Véronique), Jean Wall (Simon Carala), Lino Ventura (Commissaire Cherrier), Charles Denner (Assistent von Commissaire Cherrier), Iván Petrovich (Horst Bencker), Elga Andersen (Frieda Bencker), Félix Marten (Christian Subervie) u.a. Uraufführung (FR): 29. Januar 1958. Uraufführung (BRD): 29. August 1958. Eine Produktion von Nouvelles Éditions de Films für Lux Compagnie Cinématographique.
Zitat von Fahrstuhl zum SchafottDer ehemalige Soldat und Fremdenlegionär Julien Tavernier unterhält eine Affäre mit Florence, der Frau seines Chefs Carala. Gemeinsam planen Julien und Florence, den Mann, der zwischen ihnen steht, zu ermorden. Julien steigt heimlich über den Balkon in Caralas Büro in der obersten Etage des Firmengebäudes ein und erschießt ihn. Auf dem Rückweg vergisst er ein belastendes Indiz, sodass er nach Geschäftsschluss noch einmal zurückkehren muss. Weil der Pförtner den Strom abschaltet, bleibt Julien, bevor er die Spuren verwischen kann, im Fahrstuhl stecken, während Florence denkt, er hätte sie versetzt. Ein Pärchen, das zu allem Überfluss Juliens Auto stiehlt, gerät in Schwierigkeiten und nutzt seine Identität für einen weiteren Doppelmord ...
Die Verwandtschaft dieses Werks mit Beiträgen zur amerikanischen Film noir-Reihe ist unverkennbar. Das Liebesdreieck blieb seit Billy Wilders „Double Indemnity“ von 1944 das gleiche und natürlich gestattet auch Louis Malle seinen verbrecherischen Turteltauben kein Happy End. Der Titel weist bereits darauf hin – er führt den unbedarften Zuschauer aber auch in die Irre, denn leider halten sich die Szenen mit Julien Taviernier in seinem bedrückenden Fahrstuhl-Gefängnis in engen Grenzen, während die Kamera immer wieder auf das Umfeld anderer Protagonisten ausweicht, um scheinbar interessantere Erlebnisse festzuhalten. Das führt dazu, dass der Film nie eine klaustrophobische Verzweiflungsstimmung im Sinne eines Psychothrillers entwickelt – vielmehr steht ein vielschichtiger, auf Verwechslungen, Identitäten und das Dazwischenfunken der Realität in lupenrein ausgearbeitete Pläne fokussierter Krimiplot im Mittelpunkt. Malle beschreitet damit keine neuen Wege, sondern verlässt sich inhaltlich auf Altbewährtes; seine Arbeit mit überraschenden Plot-Wendungen und einer zunehmenden Komplexität der Handlungsabläufe überzeugt durch saubere, nüchterne Umsetzung.
Doch das Drumherum, das ist durchaus neu: Das Paris in „Fahrstuhl zum Schafott“ ist kein neblig-nostalgischer Fantasieort, sondern fest im Hier und Jetzt der Produktionszeit verankert. Der Film besticht durch uneitlen Realismus – sowohl was die Auswahl alltäglicher Schauplätze und Ausleuchtungen angeht als auch die Schauspieler und ihr Make-up. Scheinbar zufällig dringt dann auch von Zeit zu Zeit die Jazzmusik von Miles Davis ans Ohr des Zuschauers. Während Filmzuschauer, die Jazzimprovisationen mögen oder gern bekannte Namen in Vorspännen lesen, diesen ungewöhnlichen Touch hoch anrechnen werden, hätte in besonders spannenden oder dynamischen Momenten (z.B. während der Ausführung des Mordes, bei der Verfolgungsjagd auf der Autobahn oder am bizarren Abend von Louis und Véronique im Motel) eine konservativere Untermalung für mehr Tempo und Würze gesorgt.
Absolutes Herzstück des Werks sind die Darbietungen der Liebhaber durch Jeanne Moreau und Maurice Ronet. Dass es gelingt, deren Affäre und ihr daraus resultierendes Verhalten so zwingend erscheinen zu lassen, ist ein wahres Kabinettstück, wenn man bedenkt, dass ihnen eine gemeinsame Szene vor der Kamera nie zugestanden wird. Zu Beginn tauschen sie am Telefon Liebesschwüre aus, am Ende erhascht der Zuschauer ein Blick auf ihr verlorenes Glück in Form von Fotografien. Diese Unmöglichkeit des Zusammenseins verleiht dem Film Druck und deutet zugleich das Scheitern des Befreiung versprechenden Mordplans an. Beide, sowohl Florence als auch Julien, wirken gleichzeitig kalt-rational und doch heiß verliebt, denn sie leisten sich inmitten ihres Plans beide empfindliche Momente der Schwäche bzw. der Unvorsicht. Dennoch glaubt man Florence unbesehen, wenn sie in Gedanken, die aus dem Off eingesprochen werden, sich und die gemeinsame Beziehung als etwas Besonderes darstellt, im Vergleich zu dem die Hundeliebe der Blumenverkäuferin zu ihrem halbstarken Autodieb etwas außerordentlich Profanes an sich hat. Vielleicht auch weil die Kamera den jungen Leuten in unschmeichelhaften Momenten nahekommt, wohingegen Florence und Julien ausgiebig und heroisch leiden dürfen.
Lino Ventura übernimmt eine größere Nebenrolle als Polizist, der sich im letzten Drittel des Films klärend in die Vorgänge des fatalen Wochenendes einschaltet. Mit ironischen Spitzen stattet er „Fahrstuhl zum Schafott“ mit einer gewissen Leichtigkeit aus, die dem Film sehr gut tut, wenngleich die schon regelrecht surreal wirkende Szene im Verhörraum der Polizeistation nicht so recht zum naturalistischen Rest-Look des Films passen möchte. Hier zeigt sich die zuweilen noch ungeschliffene Handschrift eines Debütregisseurs, der Wagnisse einzugehen bereit war und die Früchte in Form eines Filmprodukts erntete, das noch heute als Klassiker und Wegbereiter moderner französischer Filmkunst angesehen wird.
Ein klassischer Noir-Krimi im zeitgemäßen Gewand, der auch anspruchsvolles Publikum zu erfreuen weiß. Louis Malles „Fahrstuhl zum Schafott“ erweckt den Pariser Zeitgeist von 1957 zum Leben, inklusiver eleganter Schwarzweißbilder und engagierter Auftritte junger Schauspielgrößen.
Wenn es Nacht wird in Paris (Touchez pas au grisbi)
Gangsterdrama, FR / IT 1953. Regie: Jacques Becker. Drehbuch: Jacques Becker, Albert Simonin, Maurice Griffe (Buchvorlage: Albert Simonin). Mit: Jean Gabin (Max, genannt Der Lügner), René Dary (Henri Ducros, genannt Riton), Jeanne Moreau (Josy), Dora Doll (Lola), Michel Jourdan (Marco), Paul Frankeur (Pierrot), Lino Ventura (Angelo Fraiser), Vittorio Sanipoli (Ramon), Marilyn Buferd (Betty), Denise Clair (Madame Bouche) u.a. Uraufführung (FR): 17. März 1954. Uraufführung (BRD): 23. Dezember 1954. Eine Produktion von Del Duca Films und Antares Produzione für Les Films Corona.
Zitat von Wenn es Nacht wird in ParisEs sollte sein letzter großer Coup werden: Der Ganovenkönig Max erbeutet Goldbarren im Wert von 50 Millionen Francs. Mit diesem Geld will er sich zur Ruhe setzen, denn das unstete Leben zwischen Nachtclubs und Schießereien ermüdet ihn zusehends. Doch kurz bevor die 96 Kilo Edelmetall zu Scheinen gemacht werden können, wird Max’ langjähriger Kompagnon Riton von der rivalisierenden Gaunerbande um den Drogenbaron Angelo entführt. Dessen Forderung ist simpel: Riton kommt nur wieder frei, wenn Max die Goldbarren herüberwachsen lässt ...
Von französischen Gangsterfilmen ist man bissigen Realismus gewöhnt. Jaques Beckers „Wenn es Nacht wird in Paris“ beschreitet andere Pfade, denn hier zeigt sich das wahre Gesicht des Verbrechens zunächst nur im Verborgenen. Max und seine Clique werden nicht bei kriminellen Aktivitäten begleitet, sondern porträtiert, als handele es sich bei ihnen um herkömmliche Geschäftsmänner, die sich zu strategischen Besprechungen und Hinterzimmer-Absprachen treffen. Seriös mögen sie mit ihrem Treffen in dem vertrauten Café, das alsbald in ein Nachtlokal verlegt wird, und ihren Weibergeschichten mit Strip-Tänzerinnen zwar nicht unbedingt wirken; davon abgesehen sind Max, Riton und Marco aber keineswegs abgefeimte Galgenvögel. Nadelstreifenanzüge, schicke Zweitwohnungen und ein selbstverständlicher Ehrenkodex sind Elemente, mit denen der Film sich von der Radikalität seiner Buchvorlage – einem politisch offenbar höchst inkorrekten französischen Hardboiled-Verschnitt – distanziert, was ihn allerdings bis weit hinein ins zweite Drittel der Laufzeit recht betulich wirken lässt.
Erst kurz vor knapp greift Becker in die Zauberkiste expliziter Härten und präsentiert dem Zuschauer ein umso schockierenderes Finale, das die alte Moral vom sich nicht auszahlenden Verbrechen in beeindruckenden Nachtaufnahmen einer mulmigen Löse-„Geld“- und Geisel-Übergabe untermauert. Es sind diese Szenen und die, die Ritons Entführung folgen, in welchen in Jean Gabins und René Darys Spiel eine tiefe Verbundenheit über den verbrecherischen Beruf hinaus spürbar wird. „Wenn es Nacht wird in Paris“ erwirbt sich durch dieses Porträt einer langjährigen Männerfreundschaft deutlich stärkere Meriten als etwa durch Spannungsaufbau oder Actionanteile, die beide eher mäßig ausfallen.
Jeanne Moreau, die mit „Fahrstuhl zum Schafott“ ihren endgültigen Durchbruch feierte, ist hier in einem noch vier Jahre weiter zurückliegenden Auftritt zu sehen, in dem sie allerdings noch kaum bleibenden Eindruck hinterlässt und zudem optisch recht unvorteilhaft daherkommt. Als interessanter erweist sich Lino Venturas Filmdebüt: Der Italiener gibt den machthungrigen Gegenspieler Jean Gabins sehr engagiert. Während Gabins Max sich mit der Beute zur Ruhe setzen und seine Karriere beenden will, ist Venturas Angelo ein emporstrebender Jungganove. Der Generationsunterschied macht sich einerseits in den Organisationsstrukturen der jeweils den Bossen zugehörigen Banden bemerkbar, andererseits aber auch in den Schicksalen, die das Drehbuch den beiden Figuren angedeihen lässt. Es ist klar, mit welcher der beiden Schattenfiguren das Publikum – in Ermangelung jedweder Lichtgestalt – mitfiebern soll.
Vielleicht ist genau diese positive Konnotation des Charakters Max auch der Grund, weshalb Becker dem Publikum den so naheliegenden Einstieg mit dem Goldraub vorenthält. Dabei wäre es hochspannend gewesen und hätte der Erzählstruktur des Films zweifellos gut getan, wenn diese zentrale Szene anstelle der überlangen Barsequenzen zu Beginn verbildlicht worden wäre. Die ein nahes Unheil ankündigende Musikuntermalung (eine markante Komposition von Jean Wiener) hätte dann auch gleich noch zwingendere Berechtigung gehabt.
Jacques Beckers Annäherung an eine frankophile Hardboiled-Story gleicht eher einem Freundschaftsdrama als einem vollumfänglichen Kriminalfilm. Herausragende Darstellerleistungen der miteinander in Konkurrenz tretenden Kampfhähne erhalten dem stimmungsvoll pessimistischen Film das Prädikat „sehenswert für Geduldige“.
Polizeithriller, FR / IT 1974. Regie und Drehbuch: Henri Verneuil. Mit: Jean-Paul Belmondo (Commissaire Jean Le Tellier), Charles Denner (Inspecteur Moissac), Adalberto Maria Merli (Pierre Waldeck), Catherine Morin (Hélène Grammont), Rosy Varte (Germaine Doizon), Lea Massari (Nora Elmer), Giovanni Cianfriglia (Marcucci), Jean Martin (Kriminaldirektor Sabin), Roland Dubillard (Psychologe), Germana Carnacina (Pamela Sweet) u.a. Uraufführung (FR): 9. April 1975. Uraufführung (BRD): 5. September 1975. Eine Produktion von Cerito Films und Mondial Televisione Film für A.M.L.F.
Zitat von Angst über der StadtCommissaire Le Tellier hat den Fall des brutalen Bankräubers Marcucci noch nicht abgeschlossen, als er die Ermittlungen zu einer Mordserie an leichtlebigen Frauen übertragen bekommt. Ein Wahnsinniger, der sich als moralische Instanz gebärdet und unter dem Decknamen Minos ein Katz-und-Maus-Spiel mit Le Tellier aufnimmt, steckt hinter den Taten. Zunächst heftet sich Le Tellier wegen der Doppelbelastung nur halbherzig an Minos’ Fersen, doch als die Situation zu eskalieren droht, beweist er – ebenso wie im Kampf gegen Marcucci – unerschrockenen Einsatz!
In den großen Reißern des heutigen Popcorn-Kinos kann das Publikum auf monumentale Actionsequenzen vertrauen. Doch die Freude über die sogenannten Special Effects wird dadurch getrübt, dass sie eben nur das sind, was in ihrem Namen steckt: Effekte. Manch ein Filmemacher – und manch ein Hauptdarsteller – sollte sich eine dicke Scheibe von „Angst über der Stadt“ abschneiden, der als ein Musterbeispiel des abenteuerlichen Polizeifilms der Siebzigerjahre gelten darf. Im Gegensatz zu den italienischen Poliziotteschi, in denen die Ermittler übermächtigen Filz- und Mafiastrukturen weitgehend machtlos gegenüberstanden, porträtiert Jean-Paul Belmondi in Henri Verneuils Streifen einen mit allen Wassern gewaschenen Cop mit selbstverständlicher Erfolgsgarantie. Er ermittelt nicht im Büro mit grauen Zellen und Indizienbeweisen, sondern erklimmt Hausfassaden, schießt prinzipiell als Erster und seilt sich wo nötig auch aus Hubschraubern ab. Verfolgungsjagden über Hausdächer zählen zu Le Telliers leichtesten Übungen; wenn er sich einmal warmgesprintet hat, schreckt er auch vor den Dächern fahrender Metro-Züge nicht zurück – ob in Tunneln oder auf Seine-Brücken. Diese Szenen verleihen der „Angst über der Stadt“ eine unglaubliche Dynamik und erzeugen beim Zuschauer echtes Mitfiebern – weil man eben sieht, wie alle gefährlichen Stunts ohne Netz und doppelten Boden gedreht und hochwertig fotografiert wurden.
Zu Beginn der zweistündigen Sause könnte man sich fast in einem Bava- oder Argento-Giallo wähnen, so stilsicher inszeniert Verneuil die nächtliche Bedrohung der Nora Elmer per Telefon. Ein Strudel der Angst reißt das Publikum binnen weniger Minuten mit. Das moderne Hochhausset, die Lichter der Großstadt unter den Hochhäusern von La Défence und die aufreibende Musik von Ennio Morricone gehen mit dem klassischen Frauenmörder-Plot eine stimmige Verbindung ein, die konsequent von gelegentlichen, gut abgestimmten Momenten schwarzen Humors durchzogen wird. Nora Elmers Fenstersturz, die Einführung des Killers Minos in persona und die Nebenhandlung um den brandgefährlichen Bankräuber werden in ebenso rapider Abfolge inszeniert wie der Rest des inhaltlich simplen, aber absolut stringent aufgebauten Films.
Der Film ist eindeutig auf Star Belmondo als Lichtgestalt mit den 70er-Jahre-typischen Macken ausgerichtet. Obwohl Le Tellier im Wesentlichen das Spatzenhirn mit Riesenmuskeln gibt, gern auch einmal seine großspurige, zuweilen sogar sadistische Ader heraushängen lässt und sich zeitweise genervt vom Fortgang der Ermittlungen präsentiert, überwiegt doch der Sympathiefaktor, den seine unkonventionellen Methoden und flotten Sprüche garantieren. Gänzlich anders sah das zur Premiere 1975 die Wochenzeitung Die Zeit, deren offensichtlich obrigkeitsskeptischer Filmkorrespondent nicht verstand, dass Verneuils Film in einer unterhaltsamen Fantasiewelt spielt und keinen Anspruch auf Realitätssinn erhebt:
Zitat von Filmtips. In: Die Zeit 38/1975, 12. September 1975, QuelleAngst über der Stadt von Henri Verneuil ist ein zynisches Plädoyer für den totalen Polizeistaat. In der ersten Polizistenrolle seiner Karriere jagt Jean-Paul Belmondo mit heroisch verklärter Brutalität einen geisteskranken Frauenmörder, der mit Mitteln, wie man sie aus dem faschistischen Kino kennt, als bestialischer Untermensch denunziert wird. Verneuil [...] heizt bürgerliche Aggressionen mit dem Ruf nach uniformiertem Terror auf [...], da wird ideologisch der Boden bereitet für rechtsradikale Putschisten.
Sowohl die Figur des kernigen Bankräubers als auch die des eigentlich feinsinnigen, doch durch mentale Beeinträchtigung immer wieder zum Killer werdenden Minos bereichern „Angst in der Stadt“ um formidable Gegner für Belmondos starken Protagonisten. Die Maske verlieh Adalberto Maria Merli ein stellenweise richtig schauerliches Aussehen, das seinen Auftritten einen dezenten Gruselfaktor verleiht (insbesondere hervorzuheben ist der Mord an der Krankenschwester Hélène, der im Spiegel an einer hin- und herschwingenden Spindtür eingefangen wird). Dass Krimis und Schauergeschichten sich über das pragmatische Prinzip „einem Killer sieht man sein schmutziges Handwerk nicht an“ hinwegsetzten, ist auch keinesfalls eine Erfindung faschistischer Untermenschen-Rhetorik, wie Die Zeit ihren Lesern weismachen wollte, sondern zeigt sich auch schon in unverfänglichen Klassikern wie Hugos „Der Glöckner von Notre Dame“, Shelleys „Frankenstein“ oder Wallace’ „Die toten Augen von London“.
„Angst über der Stadt“ entführt den geneigten Zuschauer auf eine Abenteuerreise durch das von stilsicheren Verbrechen erschütterte Paris der bunten 1970er Jahre. Der testosterongesteuerte Belmondo überzeugt als raubeiniger Bulle im Zweikampf gegen einen rachsüchtigen Mörder, dessen Taten und Tathintergründe stark an italienische Gialli erinnern. Gewürzt wird die Mischung mit atemberaubenden Stunt-Einlagen.
Polizeithriller, FR / IT 1967. Regie: Georges Lautner. Drehbuch: Michel Audiard, Georges Lautner, Albert Simonin (Romanvorlage „Pouce“: Jean Laborde). Mit: Jean Gabin (Commissaire Joss), Dany Carrel (Nathalie Villar), André Pousse (Quinquin), Henri Déus (Léon), André Weber (Émile), Robert Dalban (Inspecteur Gouvion), Jean Gaven (Marc), Maurice Garrel (Brunet), Louis Seigner (Polizeidirektor), Pierre Koulak (Marcel, der Koreaner) u.a. Uraufführung (FR): 14. März 1968. Uraufführung (BRD): 23. Juli 1968. Eine Produktion von Les Films Gafer und Rizzoli Film für Gaumont.
Zitat von Der BulleDer Tod von Inspecteur Albert Gouvion könnte Unfall oder Selbstmord sein. Doch sein langjähriger Freund und Kollege Commissaire Joss glaubt an Mord: Zu auffällig ist die Querverbindung von Alberts Ableben zu einem Juwelenraub, für den die Bande um den Meisterverbrecher Quinquin verantwortlich zeichnet. Quinquin hatte nach dem Coup alle Mitwisser ohne mit der Wimper zu zucken erschossen – auch das jüngste Bandenmitglied Léon, dessen Schwester Nathalie Alberts Freundin war. Nachdem Quinquin seine Hand weiterhin locker am Abzug der Pistole hat, beschließt Commissaire Joss, den rücksichtslosen Schurken persönlich zur Strecke zu bringen und seinen Mitarbeiter zu rächen ...
Wer mit dem Feuer spielt, verbrennt sich daran. Diese Weisheit könnte sowohl dem Inspecteur in seinem zweiten Frühling als auch den naiven Gangstern, die sich mit Quinquin einließen, im Moment ihres Todes durch den Kopf geschossen sein. Georges Lautners Film ist voll von Figuren, die die Konsequenzen ihrer Entscheidungen nicht absehen können oder wollen, aber auch von solchen, die sich diese Schwäche zunutze machen. Vor diesem Hintergrund hätte der Gangsterboss Quinquin eine schier übermenschliche Verbrecherfigur sein können – ein eiskalter Richter, der sich über jegliche Moralvorstellungen hinweggesetzt hat. Seiner Verkörperung durch André Pousse fehlt jede Spur dieses ehrfürchtigen Anstrichs; wie sein eigener Assistent wirkt der Ganovendarsteller, der sich nur durch seine Knarre, nicht aber durch seine Persönlichkeit Respekt verschafft.
Und so verkommt „Der Bulle“ nach dem sehr sehenswerten Einstieg mit der Entführung und dem Aufbruch des üppig befüllten Panzerwagens zu einem stupiden Ballerfilm ohne wirklich clevere oder ergreifende Handlung, da sich das Drehbuch nie um Twists oder tiefgründige Figurenzeichnungen bemüht. Weder wird dem Zuschauer je ein Blick auf die Beute ermöglicht noch einem von Quinquins Ex-Verbündeten wirkliche Gelegenheit zum Aufmucken zugestanden. Auch die großteils arg hektisch inszenierten Mordszenen vermitteln ausschließlich Brutalität statt künstlerischer Qualität – ausgenommen den Tod des jungen Léon, der in seinem Auto erschossen und anschließend zu Tönen von Brigitte Bardots „Harley Davidson“ in einem winterlich-zugefrorenen See versenkt wird. Wie Quinquin sein eigenes Autoradio einstellt, nachdem das in Léons Wagen eindringende kalte Nass die Sängerin mitten im Song abwürgt – das hat schon ’was!
Im Vorbeigehen adressiert Lautner auch das Thema Selbstjustiz, indem er den von Quinquins regelrechtem Amoklauf entnervten Commissaire Joss am Ende gegen die Buchstaben des Gesetzes handeln lässt. Trotz dieses letzten Freundschaftsdiensts kommt die Beziehung zwischen ihm und Albert Gouvion nicht an die ähnlich gelagerte zwischen den Hauptfiguren im Gabin-Drama „Wenn es Nacht wird in Paris“ heran, der mit weniger dauerhaftem Waffeneinsatz ungleich drastischere Akzente zu setzen wusste. Das liegt auch einfach daran, dass Gabin und Filmpartner Dalban im hier vorliegenden Film leider kaum gemeinsame Szenen haben, in denen ihre enge Verbindung über ein paar Off-Kommentare hinaus greifbar gemacht wird. Überhaupt spult Jean Gabin nicht mehr als sein Standardprogramm als bärbeißiger Polizeiroutinier ab, wobei sein Commissaire Joss den Tod der Nathalie Villar zugunsten eines zweifelhaften Täuschungsmanövers billigend in Kauf nimmt.
Was „Der Bulle“ dennoch sehenswert macht, sind die unprätentiöse Fotografie von Maurice Fellous, die vor allem Gabin und Carrel fotogene Großaufnahmen widmet, sowie die stimmige, zeitgeistige Musikuntermalung von Serge Gainsbourg. Der Kult-Künstler tritt in einem Cameo-Auftritt sogar selbst in einem Musikstudio, in dem ein Verhör durchgeführt wird, auf; seine coole Nummer „Requiem pour un con“ kann indes nicht davon ablenken, dass sie ebenso wie die Hippie-Tänze im Mittelteil als Füllmaterial für die selbst für 81 Minuten verdächtig schwachbrüstige Story herhalten muss.
„Der Bulle“ wartet mit dem erprobten Jean Gabin, einem Juwelenraub, einer skrupellosen Mordserie und einer gesunden Portion bissiger Schwarzmalerei auf. Dennoch kann der Film es kaum mit anspruchsvolleren oder unterhaltsameren Vertretern des französischen Kinos aufnehmen; dafür ist er zu prosaisch und höhepunktslos.
Zitat von Gubanov im Beitrag #49„Angst über der Stadt“ entführt den geneigten Zuschauer auf eine Abenteuerreise durch das von stilsicheren Verbrechen erschütterte Paris der bunten 1970er Jahre. Der testosterongesteuerte Belmondo überzeugt als raubeiniger Bulle im Zweikampf gegen einen rachsüchtigen Mörder, dessen Taten und Tathintergründe stark an italienische Gialli erinnern. Gewürzt wird die Mischung mit atemberaubenden Stunt-Einlagen.
Habe den Film vor etwa einem Jahr erstmals gesehen und würde ihn aus dem Kopf im Ergebnis genauso bewerten wie du. Hat mir persönlich besser gefallen als etwa "Der Profi". Parallelen zu "Dirty Harry" sind natürlich vorhanden. Letzterer wäre für dich vielleicht perspektivisch auch eine Option, wenn er dir noch nicht bekannt ist und dir "Angst über der Stadt" gut gefallen hat.
Interessanter Tipp! Mit „Der Profi“ habe ich auch schon geliebäugelt.
Aber erstmal etwas ganz anderes: Anlässlich des Todes von Danielle Darrieux im Alter von 100 Jahren am 17.10. zeigte Arte diesen Mittwoch (25.10.) den sehr empfehlenswerten Kriminalfilm „Marie-Octobre“. Am 6.11. wird der Film, dem bislang eine deutsche DVD-Auswertung fehlt, in der Zeit von 13:45 bis 15:50 Uhr nochmal wiederholt. Ich werde mich in Kürze im Detail äußern, aber meine Einschätzung wird sich den lobenden Worten von @Peter (Link) und @Georg (Link) nur anschließen können.
Kriminaldrama, FR 1958. Regie: Julien Duvivier. Drehbuch: Julien Duvivier, Jacques Robert (Romanvorlage: Jacques Robert). Mit: Danielle Darrieux (Marie-Hélène Dumoulin, genannt „Marie-Octobre“, Modezeichnerin), Bernard Blier (Julien Simoneau, Anwalt), Robert Dalban (Léon Blanchet, Schlosser), Paul Frankeur (Lucien Marinval, Fleischer), Paul Guers (Yves Le Guen, Priester), Daniel Ivernel (Robert Thibaud, Arzt), Paul Meurisse (François Renaud-Picart, Industrieller), Serge Reggiani (Antoine Rougier, Drucker), Noël Roquevert (Etienne Vandamme, Steuerbeamter), Lino Ventura (Carlo Bernardi, Nachtclubbesitzer) u.a. Uraufführung (FR): 24. April 1959. Uraufführung (BRD): 9. Juli 1959. Eine Produktion von Orex Films, Abbey Films, Doxa Films und Société Française du Théâtre et Cinéma für Pathé.
Zitat von Marie-OctobreFünfzehn Jahre ist es her, dass der Résistance-Anführer Castille von der Gestapo auf dem Landgut, das zugleich die Zentrale der Widerstandsgruppe war, erschossen wurde. Nun erinnert sich die Gruppe seiner zehn engsten Verbündeten an jenen verhängnisvollen Abend im August 1944. Durch die Information eines Deutschen wissen sie mittlerweile, dass Castille von einem seiner eigenen Leute verraten wurde. Sie wollen herausfinden, wer das schwarze Schaf war, und es seiner gerechten Strafe zuführen. Doch der Schuldige von einst wird seine Tat nicht so einfach gestehen ...
Nicht von ungefähr verwiesen sowohl deutsche als auch französische Filmkritiker auf „Die zwölf Geschworenen“ von 1957, denn bei „Marie-Octobre“ handelt es sich gewissermaßen um eine französische Adaption des Stils, in dem auch Sidney Lumets Kammerspieldrama gehalten ist. Der gesamte Film wickelt sich in Echtzeit innerhalb des Salons auf dem Anwesen von François Renaud-Picart ab – und alle anwesenden Personen sind vollauf damit befasst, Anschuldigungen zu tätigen oder von sich zu weisen und auf diese Weise zu einem Urteil über Schuld oder Unschuld bezüglich jedes einzelnen zu kommen. Dabei müssen die ehemaligen Widerstandskämpfer emotionale Unwägbarkeiten umschiffen, denn im Gegensatz etwa zu Agatha Christies „Zehn kleinen Negerlein“, wo ebenfalls nach einem Mörder in der eigenen Mitte gesucht wird, handelt es sich bei den abgeschotteten Verdächtigen in „Marie-Octobre“ um alte Bekannte, ja Freunde, von denen man bislang eigentlich eine hohe Meinung pflegte.
Nachdem der Film dementsprechend zunächst eine freundschaftliche Wiedersehensphase überwunden hat, in der der Zuschauer die Handlungsträger genauer kennenlernt, wird die Bombe von Renaud-Picart und Marie-Octobre platzen gelassen: Einer verriet die Gruppe damals an die Nazis, verursachte damit den Tod des eigenen Anführers. Die Anwesenden sinnen nun auf Vergeltung. Sofort wird klar gemacht: Den Abend, der als geselliges Diner begann, wird eine Person nicht überleben – die Nacht wird in einem Lynch- oder Selbstmord kulminieren. Diese Prämisse macht die folgenden „Verhandlungen“, das Aufwühlen be- und entlastender Indizien und das Erinnern an einen fatalen Abend vor 15 Jahren unheimlich spannend und erlaubt zugleich kritische Blicke auf Personen, die noch vom Krieg her gewohnt sind, das Recht selbst zu bestimmen und zu vollstrecken.
Einige von ihnen gehen die Situation in Ruhe und intelligenter Abwiegung an, andere agieren hitzköpfig oder vorurteilsbelastet. An den extremen Enden der Gruppe steht einerseits der vermittelnde, die nachträgliche Exekution ablehnende Priester Le Guen (Paul Guers), andererseits der aufbrausende, mit seiner Faustkraft nicht hinterm Berg haltende Ex-Catcher Bernardi (Lino Ventura). Danielle Darrieux profiliert sich als wohlüberlegte, aber zugleich wild entschlossene Patriotin, zu der die Männer der Gruppe lückenlos aufblicken und die gewissermaßen nach Castilles Tod den Anführerstatus übernommen hat. Ihr gelingt es hervorragend, die Zweischneidigkeit ihrer Rolle zum Ausdruck zu bringen – insbesondere an die letzten Filmminuten wird man sich hauptsächlich ihretwegen erinnern. Weitere interessante Porträts liefern Bernard Blier und Serge Reggiani, die sich beizeiten gegen das Misstrauen ihrer Kumpanen zur Wehr setzen müssen.
Allein auf geschliffene Dialoge, schauspielerische Raffinesse und dezenten Musikeinsatz gestützt, überzeugt der minimalistisch-elegante Film durch Brisanz und andauernde Spannung – die treibende Kraft eines Whodunit wird hier wirklich vorbildlich ausgeschöpft. Zu Recht zählt der Film zu den letzten ganz großen Werken Duviviers, das nicht zuletzt wegen der mutigen Ansprache kriegsrelevanter Thematiken mit authentischem Realitätsbezug allgemeine Anerkennung erntete.
Zitat von La Compagnie 7encie: Marie-Octobre. Dossier de presse, S. 2, QuelleNach dem Erfolg seines letzten Films „Ein Weib wie der Satan“ nach einem Stoff von Pierre Louÿs widmet sich Julien Duvivier einer weiteren Literaturadaption – der des Jacques-Robert-Romans „Marie-Octobre“ von 1948. In diesem Buch, das eine Zusammenkunft früherer Résistance-Kämpfer und eines ehemaligen Waffen-SS-Mitglieds drei Jahre nach dem Krieg schildert, werden Zweifel und quälende Fragen auf beiden Seiten aufgeworfen: Sollten die Faschisten nach faschistischen Methoden oder nach demokratischen Prinzipien verurteilt werden? Für die Umsetzung des Buches wendet sich der Regisseur an den Autor persönlich. Zusammen schreiben sie einen Monat lang jeden Tag von 10 bis 18 Uhr ein Drehbuch, welches letztendlich wenig mit dem Originalroman gemein hat. Tatsächlich lässt sich Jacques Robert von Verräter René Hardy inspirieren, der während des Zweiten Weltkriegs das Netzwerk von Jean Moulin der Gestapo auslieferte, und übernimmt die Umstände, die ihn belasten, sowie die Argumente, auf die er während der Gerichtsverhandlung zurückgriff, um seine Schuld zu verschleiern. Außerdem benennt er die Résistance-Organisation „Vaillance“ (= Tapferkeit), um der 438 Mitglieder des Netzwerks „Alliance“ (= Allianz) zu gedenken, die nach langen Monaten der Folter Ende 1944 getötet wurden.
Die absolut hochwertige und mitreißend dramatische Natur dieses Kammerspiels macht „Marie-Octobre“ zu einem Ausnahme-Krimi, der mit konfliktbeladenem Zeitbezug und einer exzellenten Besetzung punktet. Eine sehenswerte Filmperle, die die blasierte Behäbigkeit so manches anderen französischen Klassikers dankenswerterweise vermissen lässt und dennoch weit mehr ist als bloßes Formelkino.
Schön, daß dieser Film hier auch entdeckt wurde. Wer sich für die besondere Persönlichkeit von Jean Paul Belmondo interessiert, dem kann ich dieses Porträt nur empfehlen, das ich von seiner Gestaltung für eines der gelungensten halte, das ich bisher über einen Schauspieler gesehen habe.
Der Film war hier auch auf Seite 1 des Threads schonmal Thema; @Janek und @Mark Paxton haben sich bereits dazu geäußert. Belmondo ist wirklich eine ausgesprochene Stärke von "Angst über der Stadt" - als mit allen Wassern gewaschener, etwas proletenhafter Polizist spannt er gewissermaßen eine Brücke zwischen den noch wohlerzogeneren Tausendsassa-Inspektoren der Wallace-Serie und späteren Rauhbein-Cops à la Schimanski. Zur verlinkten Doku wird mir allerdings angezeigt, das Video sei mittlerweile nicht mehr verfügbar. Man muss also wahrscheinlich eine erneute Ausstrahlung abwarten.
Kriminaldrama, FR 1989. Regie: Patrice Leconte. Drehbuch: Patrice Leconte, Patrick Dewolf (Buchvorlage „Les fiançailles de Monsieur Hire“, 1933: Georges Simenon). Mit: Michel Blanc (Monsieur Hire), Sandrine Bonnaire (Alice), Luc Thuillier (Emile), André Wilms (Inspecteur), Marielle Berthon (Pierrette Bourgeois), Philippe Dormoy (François), Michel Morano (Taxifahrer), Eric Bérenger (Bowlingbahnbetreiber), Cristiana Réali (Frau auf der Bowlingbahn), Bernard Soufflet (Tätowierer) u.a. Uraufführung (FR): 24. Mai 1989. Uraufführung (BRD): 28. September 1989. Eine Produktion von Cinéa, Hachette Première und FR3 Films.
Zitat von Die Verlobung des Monsieur HireJeden Abend steht er am Fenster seiner kleinen Wohnung und beobachtet aus dem Dunkel heraus seine schöne Nachbarin Alice. Monsieur Hire, der gemeinhin als Sonderling gilt, kennt jedes Detail ihres häuslichen Lebens. Zur gleichen Zeit, zu der er zum Hauptverdächtigen eines Mordes an einer jungen Frau wird, beginnt Alice, sich umgekehrt ebenfalls für Monsieur Hire zu interessieren. Das ungleiche Paar lässt sich auf eine Affäre ein, zu der beide Personen aus sehr unterschiedlichen Beweggründen veranlasst werden. Wie schwer kann diese ungewöhnliche Beziehung belastet werden?
Als Verfilmung eines roman dur von Georges Simenon würde man vielleicht einen etwas geradlinigeren Kriminalfall erwarten, als Patrice Leconte ihn letztlich mit seinem collage-artigen Film zuwege brachte. Im Wesentlichen ist es nicht der Mord an Pierrette Bourgeois, der das Geschehen vorantreibt, sondern die abseitige Liebesgeschichte, die „Monsieur Hire“ mit so geschicktem Fingerspitzengefühl erzählt, dass sich die Story vom einsamen Spanner und dem berechnenden Gangsterliebchen zu einer richtig anrührenden Romanze auswächst.
Für den Erfolg des Films sind drei Dinge hauptverantwortlich: Erstens kann man vor den Auftritten von Michel Blanc in der Titelrolle und Sandrine Bonnaire als seiner „Gegenspielerin“ nur den Hut ziehen; die beiden Mimen verlassen sich auf eine ungeschönte, authentische Spielweise, die aber so reduziert daherkommt, dass jeder ihrer noch so kleinen Gesten handlungstragendes Gewicht zugesprochen werden kann. Dadurch verlangt der Film trotz seiner verhaltenen, ja entschleunigten Inszenierung dauerhafte Aufmerksamkeit und kontinuierliches Abwägen dessen, was die Protagonisten motiviert und ob man ihnen glauben oder das Gesehene gar für einen Wunschtraum halten muss. Zweitens hätte ein Film mit der Thematik von „Monsieur Hire“ leicht einen abgeschmackten Exploitation-Anstrich spüren lassen können. Die dezente Inszenierung verhindert das. Nicht aus Zufall bewegt sich Patrice Leconte in einem zeitlich und örtlich mehrdeutigen Rahmen, der nie zweifelsfrei erkennen lässt, ob der Film eigentlich im Jetzt oder in den 1930er Jahren, in Paris oder in Brüssel spielt. Diese zeitlose Qualität wird drittens von einer sehr eleganten Musikuntermalung unterstützt, die u.a. auf eine Komposition von Johannes Brahms zurückgreift. Insgesamt wird so erreicht, dass man dem Film sein für große cineastische Ergüsse eher unvorteilhaftes Produktionsjahr in keiner Szene ansieht.
„Monsieur Hire“ macht ein Vergnügen daraus, mit dem Unklaren zu spielen. Dies geht über die Unsicherheit des Zuschauers über Grund und Ende der gezeigten Beziehung weit hinaus. Auch die Motive und der Ablauf des Mordes werden nur in groben Zügen umrissen und im Gegensatz zum Buch spielen die Gründe für die Außenseiterrolle Monsieur Hires nur eine untergeordnete Rolle. Wo bei Simenon noch von der jüdischen Abstammung des Mannes auf dem sozialen Abstellgleis die Rede ist, beschränken sich Leconte und Blanc im Film auf die linkischen Verhaltensweisen und teilweise merkwürdigen Aussagen, die Monsieur Hires Andersartigkeit kennzeichnen. Inhaltliche Vagheiten werden jedoch nicht als ärgerliche Fehlstellen wahrgenommen, sondern ordnen sich dem Puzzle-Charakter des Films, der aus vielen oft stummen Kleinstszenen besteht, unter. Passend dazu formulierte Roger Ebert in seiner Kritik 1990:
Zitat von Roger Ebert: Monsieur Hire, QuelleMonsieur Hire is so delicate that you almost hold your breath during the last half-hour. Events of grave subtlety are taking place. [...] The concluding passages of the movie have the weight of sad, inevitable tragedy to them. But nothing prepares us for the movie’s extraordinary final shot, in which a swift action contains a momentary pause, a look that seems torn out of the very fabric of life itself. What does the look say? What is this woman trying to communicate? The director, Patrice Leconte, knows that to explain the look is to destroy the movie. Monsieur Hire is a film about conversations that never are held, desires that never are expressed, fantasies that never are realized, and murder.
Weitere Verfilmungen des Stoffes entstanden 1946 in Frankreich unter der Regie von Julien Duvivier („Panique“) und 1947 in Portugal unter der Regie von Ladislao Vajda („Barrio“).
Das Talent von „Monsieur Hire“ besteht darin, menschliche Abgründe mit federgleicher Leichtigkeit zu zeigen und im Pervertierten etwas Romantisches zu finden. Sensibel formten Regisseur und Hauptdarsteller aus einer effektreichen Geschichte ein reduziertes bittersüßes Filmvergnügen.
Darsteller: Yves Montand, Pierre Vernier, Jacques Sereys, Jean Négroni u.a.
Der kurz zuvor wiedergewählte Staatspräsident Jarry fällt einem Attentat zum Opfer, während er in einem Cabrio mit offenem Verdeck sitzend durch eine Menschenmenge fährt. Eine eingesetzte Untersuchungskommission kommt nach einjährigen Ermittlungen zu dem Ergebnis, dass ein Alleintäter namens Daslow für den Tod des Präsidenten verantwortlich ist. Generalstaatsanwalt Volney ist in entscheidenden Punkten anderer Auffassung als seine Kollegen und darf einer Regelung zufolge, der sich die Kommission unterworfen hat, alleine weiter ermitteln. Bei diesen Ermittlungen mehren sich rasch die Indizien, dass die Alleintätertheorie falsch sein könnte...
Angelehnt an das Kennedy-Attentat erschuf Henri Verneuil einen bemerkenswerten Verschwörungsthriller, der trotz ruhiger Inszenierung die Spannung über zwei Stunden hochhält. Der Film beginnt sogleich mit den Bildern des Attentats. Der Zuschauer sieht, dass das Gewehr des vermeintlichen Alleintäters Daslow nicht geladen war und der Schuss von einem anderen unbekannten Schützen stammt. Ebenso wird man Zeuge, dass Daslow nicht Selbstmord beging, sondern von einem anderen erschossen wurde. Dieser Wissensvorsprung kreiert zugleich Neugier im Hinblick auf den wahren Täter und Sympathie für Generalstaatsanwalt Volney, weil man weiß, dass dieser auf der richtigen Spur ist. Mit Spannung verfolgt man die Ermittlungen und die Entdeckung neuer Indizien, die Volney Schritt für Schritt in Richtung Aufspürung der Verschwörung bringen. Ob der vermeintliche Augenzeuge des Attentats, der sich während des Attentats an einem Platz wähnte, an dessen Stelle in Wahrheit ein Fernsehaufnahmewagen stand oder die Erkenntnis, dass die Patronen niemals so schön nah beieinander angeordnet auf den Boden getroffen sein können, wie die Fotos am Tatort es dokumentieren wollen.
Einen prominenten Platz im Verlauf der Handlung nimmt die Begutachtung eines dem sog. Milgram-Experiment entsprechenden Vorgangs durch Volney ein. Der mutmaßliche Attentäter Daslow hatte an diesem Experiment, das von einer Universität durchgeführt wird, teilgenommen. Darin muss ein sog. "Lehrer" seinem "Schüler" eine Liste von Begriffspaaren, die jeweils aus einem Nomen und einem Adjektiv bestehen, vorlesen. Danach muss er sie wie bei einem Vokabeltest nacheinander "abfragen". Bei falscher Antwort ist er angehalten, dem "Schüler" einen Stromstoß zu verpassen. Bei jeder falschen Antwort nimmt die Stärke zu. Getestet werden soll dabei, inwieweit Staatsbürger bereit sind, gegenüber einem ihnen unbekannten Menschen Folter anzuwenden, wenn hinter dem Ganzen eine staatliche oder wissenschaftliche Autorität steckt. Die Besichtigung des Experiments und die Ausführungen des neben ihm sitzenden Professoren lassen in Volney die Erkenntnis reifen, dass der Täter in einen organisatorischen Machtapparat eingebunden sein muss.
Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Untermalt von der gelungenen Musik Ennio Morricones, bietet "I wie Ikarus" Thriller-Unterhaltung auf höchstem Niveau. Yves Montand gibt sich als Generalstaatsanwalt Volney so analytisch, wie der Film von seiner Erzählweise herüberkommt. Ohne exzessive Gewalt-Schilderungen oder überdramatische Momente kommt Regisseur Verneuil während der knapp zweistündigen Laufzeit aus und liefert dennoch oder gerade deshalb ungemein fesselnde Unterhaltung. Neben Montand sieht man u.a. Pierre Vernier, der hier im Forum z.B. auch aus "Das Mädchen von Hongkong" oder einer Folge "Graf Yoster gibt sich die Ehre" bekannt sein könnte.
Die Blu-Ray von StudioCanal wird dem Film bildtechnisch absolut gerecht. Extras leider Fehlanzeige.
Fesselnder Verschwörung-Thriller Henry Verneuils, der durch seine ruhige, analytische Inszenierung beinahe hypnotische Wirkung erzeugt. Sehr zu empfehlen! 5 von 5 Punkten.
● I... COMME ICARE / I WIE IKARUS (F|1979) mit Yves Montand, Michel Albertini, Roland Amstutz, Jean-Pierre Bagot, Georges Beller, Maurice Benichou, u.a. eine Produktion der Antenne-2 | Société Française de Production | V Films | im Verleih der Neue Constantin Film ein Film von Henri Verneuil
»Ein Weltverbesserer bringt sich nicht selbst um!« Staatspräsident Jarry (Gabriel Cattand) sieht seiner zweiten Amtszeit entgegen. Bei einem öffentlichen Auftritt wird er vor den Augen tausender Anhänger in seinem Wagen von einem Unbekannten erschossen. Der Attentäter namens Daslow (Didier Sauvegrain) wird wenig später tot aufgefunden und man geht von Selbstmord aus. Nach einem Jahr soll die mit den Ermittlungen beauftragte Untersuchungskommission ihr Ergebnis vorlegen, allerdings kommt es zu einer spektakulären Wendung. Eines der Mitglieder, Generalstaatsanwalt Henri Volney (Yves Montand), verweigert die Unterschrift, sodass der Bericht der Kommission hinfällig wird. Die Ermittlungen werden nun unter der Leitung von Volney wieder aufgenommen, der aufgrund seiner Erkenntnisse nicht an die Tat eines Einzelnen glauben kann. Mit seinem Team rollt er skandalöse Hintergründe auf, doch die Zeit rennt davon, da bereits etliche Zeugen unter mysteriösen Umständen ums Leben kamen...
Polit-Thriller, ganz gleich aus welcher Dekade sie auch stammen, lassen sich qualitativ zunächst einmal gut daran messen, ob man rückblickend eine nicht endend wollende Brisanz und vor allem andauernde Aktualität ausfindig machen kann. Anhand der ersten Szenen von Henri Verneuils Film lässt sich gerade in der heutigen Zeit ein ziemlich unbequemer Realitätstransfer herleiten, außerdem verspürt man beim Großthema Politik naturgemäß die schwarzen, verborgenen und zerstörerischen Seiten, die von der Öffentlichkeit ferngehalten werden sollen. Sind es nur Märchen? Ernüchternderweise muss man sich sicherlich eingestehen, dass es zwischen Himmel und Hölle mehr konspirative politische Kraft gibt, als man vielleicht für möglich hält. Enthüllungen, Bloßstellungen, Wahrheiten, aber auch Kolportage, bringen die Masse seit jeher in Aufruhr. Bleibt man ganz schlicht bei diesem Beitrag, überträgt sich dieses Gefühl hundertprozentig auf den Zuschauer und die Geschichte hält einen mehr als unangenehmen Spiegel in einem Schachspiel, möglicherweise ohne Länderbindungen vor, in dem zahlreiche Bauern geopfert werden, damit es den Offizieren nicht an den Kragen geht. Wie zu sehen ist, kann ein solches Spiel auch außer Kontrolle geraten, denn hier wird gleich der Staatspräsident höchstpersönlich ermordet, was den Alltag, das politische Ehrgefühl und Gleichgewicht aus den Angeln hebt. Man braucht nicht zu denken, dass es zu chaotischen Zuständen kommt, diese spielen sich nämlich höchstens temporär ab, weil die Erfahrung lehrt, dass jeder ersetzbar ist und dass die Konkurrenz niemals schläft. Gleich von Beginn an geht es also Schlag auf Schlag. Eine Staats-Eskorte wird von der Polizei und der jubelnden Masse eskortiert, tausende von Menschen und die Sicherheitskräfte werden schon einen gewissen Schutz garantieren - so denkt man zumindest. Als dann auch noch der lauernde Attentäter keinen Schuss abfeuern kann, wiegt man die Zielscheibe in Sicherheit.
Wenig später findet man sich in den abgeschirmten Räumen einer Untersuchungskommission wieder, der schnelle Abschluss ist oberste Priorität, sozusagen die Königsdisziplin, vor allem da man den Massen einen Täter zum Fraß vorwerfen kann. Das suggerierte Motiv bewegt sich vollkommen stilsicher und konstruiert zwischen geistiger Verwirrtheit und dissozialer Persönlichkeitsstörung eines Einzelgängers, man kann daher zu einem Abschluss kommen und die sechs Mitglieder der Kommission müssen die Berge von Akten nur noch mit einer Unterschrift absegnen, damit sie der Öffentlichkeit präsentiert werden können. Die Zeit ist nun gekommen, um die Sinnhaftigkeit eines bekannten Sprichwortes hautnah mitzuerleben, nämlich dass die Rechnung ohne den Wirt gemacht wurde. Generalstaatsanwalt Volney verweigert seine Absolution aufgrund vieler ungeklärter Fragen. Der Mann mit der prägnanten Stimme und dem selbstbewussten Auftreten wird vom Zuschauer schnell als diplomatischer Analytiker und intelligenter Rhetoriker mit glasklarem Verstand identifiziert, der es sich aber auch nicht nehmen lässt, unter hohen Einsätzen zu pokern. Ab diesem Zeitpunkt kann dieses brisante Politikum seine Orientierung zum Detail und dem Zusammentragen von Informationen forcieren. Die entscheidende Frage, wie die Hintergründe aussehen mögen, sorgt dabei für ausgiebige Spannung. Die Regie scheut sich fortan nicht, ein unüberschaubares Mosaik in Kleinstarbeit mühsam zusammenzufügen, was sich zur großen Stärke entwickeln wird, die man bereits im frühen Stadium wahrnehmen kann. Nicht gerade überraschend, aber relativ plötzlich, gibt es auffällige Brüche in der strategischen Kontinuität des Verlaufs und man wittert die Gefahr von Liquidierung und Mord an allen Ecken und Enden. Längst ist ein Komplott von einzelnen Personen oder kleinen Gruppierungen nicht mehr auszuschließen, sodass sich der Verdacht verstärkt, dass man es mit weitverzweigtem und bis ins kleinste Detail organisiertem Verbrechen zu tun hat.
Der Kampf gegen ein Phantom ist von Rückschlägen und Ohnmacht geprägt, der Mann, der sich gegen die Maschinerie stellt, wird exzellent von Yves Montand dargestellt. Sicherlich darf von einer Leistung gesprochen werden, die man nicht alle Tage zu sehen bekommt, da eine auffällige Mischung von Ausstrahlung und Vehemenz im Krieg gegen subversive Mächte zusammenkommt. Bereits der Vorspann deutet die Ausnahmestellung des Franzosen im Film an, der logischerweise vor dem Titel genannt wird, damit alle anderen Darsteller in alphabetischer Reihenfolge abgespult werden können. Das soll nicht heißen, dass sich nicht auch hier besondere Leistungen ausfindig machen lassen würden, allerdings ist der Film vollkommen auf das Profil von Montand zugeschnitten worden. Was ist unter der unbequemen Grundvoraussetzung zu tun, wenn die Sicherheit von Zeugen und Kollegen längst nicht mehr gewährleistet werden kann? Angesichts dieser Tatsache geht ein stets präsentes Gespenst um, dass sich Tod und Mord nennt, und dessen Opfer - wie sollte es auch anders sein - schleunigst horizontale Gestalt mit Blei im Hirn annehmen werden. Im Sinne von Präzisionsleistungen darf in Henri Verneuils Beitrag definitiv umfassend - oder besser gesagt - global gedacht werden, denn die handwerkliche Qualität lässt in keinem Bereich irgend welche Wünsche offen. Mit den Beispielen Ausstattung, Schauplätze, Komparserie, Dialogarbeit oder Musik, erschließen sich höchste Qualitätsebenen und es wird ein Gesamtbild vermittelt, das runder nicht sein könnte. Als I wie I-Tüpfelchen darf man auf ein besonderes Finale und eine noch spektakulärere Auflösung dieses verzwickten Falles hoffen, aber der Verlauf garantiert über die gesamte Spiellänge ohnehin besondere Eindrücke. "I wie Ikarus" ist ein umwerfender Polit-Thriller mit spürbarer Brisanz, psychologischer Dichte und außergewöhnlicher Intensität geworden, bei dem der Zuschauer in der stark dezimierten Gruppe der Augenzeugen übrig bleiben wird. Erstklassig!
Darsteller: Michèle Morgan, Daniel Gélin, Peter van Eyck, Bernard Blier, Michèle Mercier u.a.
Der durch finanzielle Sorgen in eine persönliche Krise verfallene Eric Fréminger (Peter van Eyck) stellt seine Ehefrau Hélène, zu der er nur noch ein sehr abgekühltes Verhältnis hat, vor eine besondere Aufgabe: Eric möchte Selbstmord begehen, gibt aber vor, seiner Lebensversicherung Meldung gemacht zu haben, dass im Falle eines Selbstmordes keine Auszahlung erfolgen soll. Will Hélène an das Geld kommen, darf der Tod daher nicht wie Selbstmord aussehen. Um an das Geld zu gelangen, spannt Hélène nach dem tatsächlich vollzogenen Selbstmord den frisch eingestellten Chaffeur Robert in ihre Pläne mit ein. Wird das Vorhaben gelingen?
Aus zweierlei Gründen dürfte dieser französich-italienische Thriller alter Schule aus dem Jahre 1957 für hiesige Mitleser von besonderem Interese sein: Erstens durch die Mitwirkung Peter van Eycks und zweitens durch den Umstand, dass der Film auf einer Vorlage von James Hadley Chase basiert, an dessen Werk man sich auch für Streifen wie "Wartezimmer zum Jenseits" oder "Ein Sarg aus Hongkong" bediente. Die Grundkonstellation, Ehefrau und erst kurzzeitig engagierter Hausangestellter machen gemeinsame Sache zu Lasten des Ehemannes, scheint zunächst an den Noir-Klassiker "Im Netz der Leidenschaften" mit Lana Turner und John Garfield zu erinnern. Im vorliegenden Film handelt van Eyck indes selbstbestimmt, Ehefrau und Bald-auch-Geliebter machen lediglich "das Beste draus". Doch so harmlos, wie das klingt, ist es dann doch nicht. Hélène hatte, wie sich rasch herausstellt, nichts als Verachtung für ihren Mann übrig und hätte ihn wohl auch früher oder später eingenhändig um die Ecke gebracht. Was Robert, der ernstlich in sie verliebt ist und für Hélène zur Verdeckung des Planes parallel noch eine Liebschaft mit dem naiven Hausmädchen anfängt, nicht ahnt, ist, dass Hélène allgemein genug von Männern hat und auch ihn nur benutzt. Wie sich dies im Laufe der Handlung auswirkt und ob der Plan aufgeht, sei an dieser Stelle nicht verraten.
Sehr wohl sagen kann man aber, dass "Luzifers Tochter" ein wirklich gelungener Thriller mit noiresken Zügen ist. Die Story verspricht reichlich Spannung, die Optik ist edel. Peter van Eyck hinterlässt, obwohl er schon nach einer halben Stunde aus dem Film austritt, einen bleibenden Eindruck. Gleiches lässt sich über Michèle Morgan sagen. Sie gibt die Femme fatale mit einer sagenhaft kalten Aura, die einen erschaudern lässt. Ihrer herben Schönheit wegen kann man allerdings nachvollziehen, warum die Männer reihenweise ihrem Charme erliegen. Daniel Gélin ("Der Mann, der zuviel wußte") spielt den durch sie gebrochenen Mann höchst glaubwürdig. Die zweite Hälfte weist ein paar kleinere Längen auf, hier ist die Intention des deutschen Verleihs, der den Film an manchen Stellen etwas kürzte, verständlich. Die DVD von Pidax zeigt den Film jedoch in ungekürzter Fassung, wobei die nicht synchronisierten Stellen untertitelt sind. Die Bildqualität ist sehr gut. Beigefügt ist wie üblich ein Nachdruck der Illustrierten Film-Bühne.
Edler Thriller alter Schule mit noiresken Zügen nach einer Vorlage von James Hadley Chase. Der Cast um Peter van Eyck, Daniel Gélin und die großartige Michèle Morgan spielt brillant. 4,5 von 5 Punkten.