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Dieses Thema hat 187 Antworten
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 Film- und Fernsehklassiker national
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Percy Lister Offline



Beiträge: 3.589

01.01.2015 19:54
#136 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten

Das informative Buch "Unterhaltung, aber sicher! Populäre Repräsentationen von Recht und Ordnung in den Fernsehkrimis "Stahlnetz" und "Blaulicht", 1958/59-1968" von Nora Hilgert (transcript Verlag, Bielefeld 2013) erwähnt auch die Hintergründe für das Ende der "Stahlnetz"-Reihe.

Zitat von Seite 93/94
Am 14. März 1968, genau zehn Jahre nach der Premiere der ersten "Stahlnetz"-Folge, lief dann ohne weitere Ankündigung die letzte Episode über die Fernsehbildschirme. Sehr zum Verdruss vieler Zuschauer, wie noch darzulegen ist. Wenn man den Aussagen beider Macher glauben darf, lag das Ende der Reihe jedoch nicht nur in anderweitigen Engagements begründet. Vielmehr hatte sich das Konzept für sie persönlich, aber auch für den deutschen Fernsehmarkt überlebt. (...) Für den Autor Menge soll zudem das Verhalten der Polizei gegenüber Demonstranten im Zusammenhang mit den Studentenunruhen 1967/1968 ein Grund gewesen sein, die Arbeit an der Reihe "Stahlnetz" einzustellen und keine 23. Folge mehr zu schreiben. Menge sagte dem Nachrichtenmagazin "DER SPIEGEL" am 28. April 1968 folgendes: "Sendungen, die wir vorhatten, würden in dieser Situation ein politisches Gewicht erhalten, das genau jener Seite nützen würde, die sich als widerwärtig und abscheulich erwiesen hat... Vielleicht besinnt sich unsere Regierung - die hat, mindestens in Berlin, die meiste Schuld - und bietet uns eines Tages wieder eine Polizei an, für die man sich nicht zu schämen braucht."


Die Autorin folgert daraus, dass "Stahlnetz" eben keine reine Unterhaltungssendung war, sondern ein positives Polizeiimage und ein festes Normen- und Wertegefüge transportierte.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

01.01.2015 20:43
#137 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten

Menges Aussage ist für eine Serie, die sich mit privat oder finanziell motivierten Verbrechen beschäftigt, ziemlich irrelevant und zeugt von einem zeitgeistigen Denken, das in die Reihe "Stahlnetz" nicht hineingepasst hätte.

Zitat von Percy Lister im Beitrag #136
Die Autorin folgert daraus, dass "Stahlnetz" eben keine reine Unterhaltungssendung war, sondern ein positives Polizeiimage und ein festes Normen- und Wertegefüge transportierte.

Für diese Schlussfolgerung hätte die Autorin kein solches Zitat gebraucht. Das trifft in der Essenz auf jeden Krimi zu, in dem der Täter dingfest gemacht wird. Der Krimi als Genre bedient per se ein konservatives, sicherheitsorientiertes Weltbild nach dem Schema "Auf Regelverstoß folgt Strafe".

Percy Lister Offline



Beiträge: 3.589

01.01.2015 20:47
#138 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten

BEWERTET: "Die Tote im Hafenbecken"
(Erstausstrahlung innerhalb der "Stahlnetz"-Reihe als 4. Folge am 22. August 1958)

mit: Gerda Maria Jürgens, Kurt Condé, Karl Heinz Gerdesmann, Rainer Brönnecke, Christa Siems, Margret Neuhaus, Elfi Szillat, Benno Gellenbeck, Jochen Rathmann, Werner Reinisch u.a. | Regie: Jürgen Roland



Helga Wieberitz besucht wie jeden Abend das Tanzlokal "Tampico" in Hamburg-St. Pauli. Sie macht dort Männerbekanntschaften und lässt sich einladen. Am Abend des 8. April begleitet sie einen Matrosen auf sein Schiff und ist seitdem abgängig. Erst am 12. Juli erfährt man etwas über ihren Verbleib, als ihre Leiche aus dem Hafenbecken gefischt wird. Helga Wieberitz wurde ermordet. Kommissar Bode von der Davidswache befragt alle Personen, die die Frau kannten und kommt bald zu dem Schluss, dass der Täter ein Seemann sein muss....

Gerda-Maria Jürgens war eine Darstellerin, die Jürgen Roland oft und gern einsetzte, manchmal nur für einen Satz. Ihr energisches Auftreten ließ jede Beobachtung zu einem Politikum werden und ihre unverkennbare Stimme maß jeder ihrer Aussage eine Bedeutung bei, die oftmals nur sie als relevant für eine laufende Ermittlung empfand. Dennoch wirkt sie trotz ihrer Schwatzhaftigkeit sympathisch und umgänglich. In Folge 4 der Erfolgsreihe gab ihr der Regisseur die Möglichkeit, eine Figur zu zeichnen, deren Tod fast beiläufig und als unvermeidbar inszeniert wird. Ihr Schicksal, so wird unterschwellig suggeriert, habe sie nur ihrem Lebenswandel zu verdanken. Der Mordfall gehört zu jenen innerhalb der Serie, welche durch die Abwesenheit großer Namen wie Engelmann, Lange, Tiede oder Lauffen in die zweite Reihe verwiesen werden. Ein relativ unbekanntes, unspektakuläres Team kümmert sich um den Fall, der wenig Meriten verspricht; zunächst als vermisst gemeldet, könnte Helga Wieberitz auch auf einem Schiff mitgefahren sein und irgendwann in einer Hafenstadt wieder auftauchen. Auch der Off-Kommentar unterstreicht die Ansicht, dass der schale Beigeschmack eines abgestandenen Vergnügens abstumpft und das Kommen und Gehen der Menschen in St. Pauli etwas sei, womit sich das personalstärkste Hamburger Polizeirevier - die Davidswache - tagtäglich befasse. Vermutlich liegt hier der Grund dafür, dass "Die Tote im Hafenbecken" wie das Kellerkind der Reihe wirkt und trotz eines Aufgebots an Hamburger Hafenflair relativ schnell in flache Gewässer abdriftet und auf Grund läuft. Das Tatmotiv, das "[Helga Wieberitz] bei der Auflösung des Falles rehabilitiert - sie musste sterben, weil sie Geld verlangte, das ihr und ihrer Dienstleistung zustand," wie die Autorin Nora Hilgert in ihrem Buch über die "Stahlnetz"-Reihe vermerkt, wird erst in der allerletzten Minute gelüftet. Ebenso wie in "Das zwölfte Messer" wird der Person des Täters und seinen Motiven nach der Überführung keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Hastig blendet die Kamera ab, so, als wolle sie nicht länger als nötig bei demjenigen verweilen, der aus dem Gefüge von Recht und Ordnung ausgeschert ist. Sobald Gerda-Maria Jürgens von der Bildfläche verschwunden ist, verliert die Episode an Glanz. Ihre Schlagfertigkeit gegenüber Vermieterin, Kolonialwarenhändler oder den Barbesuchern weicht den Ermittlungen einer routiniert und teils gelangweilt agierenden Polizei. Die Zeit der großen "Stahlnetz"-Geschichten sollte erst noch kommen und die Fingerübungen des Jahres 1958 bleiben - mit Ausnahme der Berliner Ode "Die blaue Mütze" und der Weihnachtsfolge "Sechs unter Verdacht" - Außenseiter in der Gunst des Publikums.

Gubanov ( gelöscht )
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10.01.2015 21:09
#139 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten




„Dam da damdam“ – die Musik, die zu den markantesten Einleitungen der deutschen Fernsehgeschichte gehört, wurde ursprünglich von einem Amerikaner für eine amerikanische Serie komponiert. Doch nicht nur Ray Anthonys „Dragnet“-Theme stand Pate für das hiesige „Stahlnetz“, auch der Rest der Reihe, die seit 1949 beim US-Sender NBC zunächst im Radio und dann im TV lief, wurde als Vorbild für die frühe deutsche Krimiserie hergezogen. „Stahlnetz“ steht im Ruf, das erste serielle Kriminalprogramm auf heimischen Bildschirmen gewesen zu sein, doch diese Annahme deckt sich, wie noch frühere Produktionen wie „Der Polizeibericht meldet“ (seit 1953) oder „Die Galerie der großen Detektive“ (1954) beweisen, nicht ganz mit der Realität auf dem ersten Programmplatz. Für die Ausarbeitung des Sendekonzepts, das sich auf die authentische Wiedergabe echter Kriminalfälle stützte, bemühte sich das vom NWRV verpflichtete Team sogar zu einem Lokaltermin bei den amerikanischen „Dragnet“-Pionieren:

Zitat von Kriminalsendung: Im Schleppnetz, Der Spiegel, 10/1958, S. 59
Roland besuchte den „Dragnet“-Autor Webb in Amerika und ließ sich die Arbeitsmethoden der amerikanischen Fernsehleute erklären. Je länger aber Roland und Menge an den Rohmanuskripten für die ersten „Stahlnetz“-Sendungen arbeiteten, desto mehr Schwierigkeiten stellten sich ein. [...] Immerhin haben Roland und Menge noch sehr viel vom amerikanischen Vorbild in ihre deutsche „Dragnet“-Fassung übernommen. Sie wollen zum Beispiel jede Folge ihrer Sendung mit einigen „ganz auf Spannung gemachten“ Szenen beginnen und den Helden jeder „Stahlnetz“-Folge stets in der gleichen Pose und mit den gleichen Worten vorstellen, auch wenn „wegen der Verhältnisse in Deutschland“ die Hauptfigur jedes Mal einen anderen Namen tragen und auch jedes Mal von einem anderen Darsteller gespielt werden muss.


Im Nachhinein wird ersichtlich, dass die Idee, den Ermittler jedes Mal von einer anderen Person spielen zu lassen, nicht konsequent durchgehalten werden konnte. Schon in der fünften Folge kommt es zur ersten personellen Dopplung, als Helmut Peine, der bereits in „Bankraub in Köln“ als Kommissar Klint ins Rennen geschickt worden war, in der Rolle des Kriminalrats Kerkhan wieder auftauchte. Später wurde vor allem Heinz Engelmann zu einem wiederkehrenden „Polizeigesicht“, das der Serie trotz namentlicher Wechsel ein kontinuierliches und markantes Profil verlieh. Dabei war die Wahl, nicht wie in beinah allen folgenden Krimiserien und auch wie bei „Dragnet“ einen Dauer-Ermittler zu wählen, sondern die Arbeit auf verschiedenste Schultern zu verteilen, durchaus bewusst getroffen worden:

Zitat von Kriminalsendung: Im Schleppnetz, Der Spiegel, 10/1958, S. 59
Das „Deutsche Fernsehen“, das die amerikanische Sendung „Dragnet“ in „Stahlnetz“ umkopieren möchte, wird allerdings auf eine Zentralfigur wie den Sergeanten Friday verzichten müssen. „Wir können uns wegen der Verhältnisse in Deutschland nicht auf eine Stadt und auf einen Kriminalbeamten beschränken“, erklärt der Hamburger Fernseh-Kriminal-Spezialist Jürgen Roland, der in der deutschen Fassung Regie führen wird.


Weiterhin eröffneten sich dem NWRV und später dem NDR mithilfe eines breit gestreuten Ermittler- und Schauplatzeinsatzes vielfältige Möglichkeiten bei der offiziellen Repräsentation des Polizeiapparats. Ähnlich wie in den Anfangsjahren des „Tatorts“ wurde dadurch eine Kooperation – im Sinne des Serientitels also eine tatsächliche Vernetzung – der einzelnen Dienststellen ermöglicht, die dem Fernsehpublikum einen Einblick in die Komplexität und die Größe des Exekutivorgans bot. So bleibt unterm Strich festzuhalten, dass „Stahlnetz“ nicht nur technisch und seriell einen Meilenstein der deutschen Fernsehentwicklung darstellt, sondern dass auch kaum eine andere Serie ähnlich vielschichtig und abwechslungsreich daherkommt wie Rolands 22 lebensnahe Alltagskrimis.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

11.01.2015 20:50
#140 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten




Der Ermittlungen erster Teil:
Aus den Polizeiakten von Rheinland und Ruhrgebiet


Einen Sonderstatus unter den deutschen Kriminalserien nimmt „Stahlnetz“ nicht nur wegen seiner dokumentarisch anmutenden Aufmachung ein. Auch war es von Anfang an das Ziel der Macher, die authentischen Fälle mit Milieus zu verbinden, mit denen sich die breite Zuschauerschaft identifizeren konnte. Im Gegensatz zu späteren TV-Krimis, in denen vor allem Herbert Reinecker immer wieder ähnliche Studentenkneipen und Grünwaldvillen zum Hintergrund seiner Fälle machte, zeichnet sich das „Stahlnetz“ durch Episoden aus, die mitten im Leben des sprichwörtlichen „kleinen Mannes“ spielen. Nicht die kapriziösen Auswüchse des Wirtschaftswunders, sondern die Schlichtheit der Nachkriegszeit fangen vor allem die frühen Episoden des ersten Produktionsstoßes von 1958 ein. Da scheint es alles andere als ein Zufall zu sein, dass vor allem in der ersten Hälfte der Serie viele Folgen die Arbeiter im Ruhrgebiet und bodenständige Frohnaturen des Rheinlands in den Mittelpunkt stellen. Zum Ausdruck brachte Roland den Lokalbezug entweder „durch die Blume“ mittels Akzenteinschlag der Akteure, typischer Kulissen und Sehenswürdigkeiten; oder er ließ ihn durch Fahrzeugkennzeichen, durch Einblendungen im Vorspann oder durch den Offsprecher explizit betonen – so geschehen im Fall „Das zwölfte Messer“:

Zitat von Einleitung der Episode „Das zwölfte Messer“ durch einen unsichtbaren Erzähler
Das ist das Ruhrgebiet, mit über fünf Millionen Bewohnern. Die Grenzen zwischen den Städten scheinen willkürlich gezogen – man weiß kaum, wo etwa Essen beginnt und wo Bochum aufhört. Die Kohle hat dem Gebiet seinen schwarzen Stempel aufgedrückt. 298’736 Männer fahren täglich ein, in drei oder vier Schichten aufgeteilt. Auch heute, am Sonnabend, sind sie unter Tage. In siebeneinhalb Stunden erst werden sie alle aus der Tiefe des Schachtes wieder ans Tageslicht kommen ...


Heute erscheinen die Aufnahmen der proletarischen, einfachen Milieus besonders wertvoll, nachdem der Strukturwandel des Gebiets in den vergangenen Jahrzehnten zu einer deutlichen Schwächung, häufig sogar zu einem Verschwinden der traditionellen Kohleabbau- und -verhüttungsindustrie geführt hat. Gleichermaßen entfalten die „Stahlnetz“-Fälle aus Ruhrgebiet und Rheinland häufig eine besonders interessante Note, weil in ihnen Tristess und Aufbruchstimmung, Morde, Überfälle und Feierlaune gegenübergestellt werden. Kontraste, die das Zeitkolorit der Episoden besonders betonen.

Zugehörige Besprechungen:

• Episode 01: Mordfall Oberhausen (Schauplätze: Karlsruhe / Oberhausen)
• Episode 02: Bankraub in Köln (Schauplätze: Köln / Bad Neuenahr)
• Episode 05: Das zwölfte Messer (Schauplatz: Ruhrgebiet)
• Episode 10: Die Zeugin im grünen Rock (Schauplatz: Düsseldorf)
• Episode 12: E ... 605 (Schauplatz: Essen)
• Episode 14: In der Nacht zum Dienstag (Schauplatz: Düsseldorf)

Gubanov ( gelöscht )
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11.01.2015 21:02
#141 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten




Stahlnetz: Mordfall Oberhausen

Episode 1 der TV-Kriminalserie, BRD 1958. Schauplätze: Karlsruhe, Oberhausen. Regie: Jürgen Roland. Drehbuch: Wolfgang Menge. Mit: Hellmut Lange, Rudolf Fenner, Manfred Steffen, Helmut Peine, Gerda Gmelin, Gustl Busch, Inge Fabricius, Gerda Masuth, Lesley Ramsey McCabe, Kurt Fischer-Fehling u.a. Erstsendung: 14. März 1958, ARD. Eine Produktion des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands.

Zitat von Stahlnetz (1): Mordfall Oberhausen
Zeugen beobachten, wie im Gasthaus „Tiefer Brunnen“ ein Mann einen anderen erschießt. Die Polizei kann jedoch nur feststellen, dass es einen Zweikampf gegeben haben muss. Der Täter ist verschwunden und die Anwesenden schweigen über das Vorgefallene. Selbst als Kommissar Mattern von der Karlsruher Kripo die Familie, die mit dem Pistolenschützen am selben Tisch saß, wegen Verdunklungsgefahr verhaftet, lichten sich die Mauern des Schweigens nur langsam. Dass der Fall dennoch geklärt werden kann, ist den routinierten Ermittlungsmethoden, der Vernetzung der Reviere und einem gewitzten Fotografen in Oberhausen zu verdanken ...


Die „Stahlnetz“-Serie, die ihrem martialischen Namen in späteren Jahren mit ungeschönten Überfällen und aufwändigen Verfolgungsjagden alle Ehre machte, begann mit „Mordfall Oberhausen“ auf besonders geradlinige, beinah unauffällige Art. Zwar kam die Episode in ihrem Anteil an Außenaufnahmen sowie ihrem relativ dynamischen Schnitt schon merklich näher an moderne Seheindrücke heran als etwa die in den folgenden Jahren entstandenen Durbridge-Umsetzungen des WDR. Dennoch bleibt nach „Mordfall Oberhausen“ ein handzahmer erster Eindruck zurück, der lediglich durch einen Rahmen aus Raffinesse in der Inszenierung der anfänglichen Mordsequenz und einer memorablen Schlusseinstellung aufgelockert wird. Wie auch in anderen Ermittlungsfällen geht es der Serie weder um die Lebensumstände des Opfers noch um die Persönlichkeit des Täters: Roland und Menge richteten ihr Interesse unumwunden auf die kriminalistischen Abläufe, die nötig waren, um dem flüchtigen Verbrecher und seinem Kumpanen auf die Spur zu kommen. Dabei griffen sie nicht nur auf die eigenen in der Serie „Der Polizeibericht meldet“ gesammelten Erfahrungen zurück, sondern ließen sich auch von offizieller Seite unter die Arme greifen:

Zitat von Kriminalsendung: Im Schleppnetz, Der Spiegel, 10/1958, S. 60
Roland und Menge haben sich – wie Webb – die Mithilfe der Kriminalpolizei gesichert, und sie glauben deshalb, kriminalistische Details exakt wiedergeben zu können. Doch schon bei den Dreharbeiten für die erste „Stahlnetz“-Folge musste ein Polizeiberater eingreifen: Weder Regisseur noch Autor hatte etwas daran auszusetzen gehabt, dass während der Aufnahme eines Verhörs auf dem Schreibtisch des „Stahlnetz“-Kommissars ein messerförmiger Brieföffner lag. „Der Kriminalbeamte belehrte uns“, berichtet Roland, „dass so etwas bei der Polizei unmöglich sei, denn ein Brieföffner könnte den Vorgeführten zu einem Selbstmordversuch oder zu einem Angriff auf den Beamten verleiten.“


In den frühen „Stahlnetz“-Folgen finden sich weder in Vor- noch Abspann die jeweiligen Episodentitel wieder. Nichtsdestotrotz wirft die Titelgebung „Mordfall Oberhausen“ im vorliegenden Fall Fragen auf: Wenn das Verbrechen mit so großer Sorgfalt nach originalen Unterlagen der Kriminalpolizei aufbereitet wurde und die Profis aus dem echten Leben sogar einen Blick auf das Tun der Fernsehmacher warfen – weshalb fiel dann niemandem auf, dass der einzige Mordfall in den 35 Minuten Laufzeit sich gar nicht in Oberhausen zuträgt? Ob Irrtum oder gewollte Verwirrungsstiftung – im Laufe der Reihe wird man noch auf viele andere solcher lokalen Schnitzer stoßen, wobei sich hinter vielen von ihnen offenkundig die Bestrebung verbirgt, die wahren Schauplätze zu verschleiern, um Opfer- und Täterschutz zu sicherzustellen. So existiert das Dorf Pritzin, ein Hauptschauplatz in „Verbrannte Spuren“, überhaupt nicht; auch gibt es einen Semmelweg, wie er in „Die Zeugin im grünen Rock“ angesprochen wird (die Episode spielt in Düsseldorf), in Deutschland einmalig nur in Berlin. Doch der Schummel funktionierte sogar noch dezenter: In „Spur 211“ wird vom 421. Stromkilometer des Mittellandkanals gesprochen, wo der Kanal doch nur 325 Kilometer lang ist.

Hellmut Lange präsentiert sich trotz seines noch jungen Aussehens als seriöser und hartnäckiger Beamter, wenngleich sich in den Dialogen mit seinem Assistenten einige Vertrautheiten einschleichen, die wohl zeigen sollen, dass auch Polizisten nur Menschen sind. In Erinnerung bleibt außerdem Manfred Steffen als cleverer und hilfsbereiter Fotograf. Seine Rolle ist es, die dem „Mordfall Oberhausen“ seine Rechtfertigung als Einstieg in die Serie verleiht, weil am Geschäftsmann Selhof die Mitverantwortung der Öffentlichkeit beim Aufspüren verschwundener Straftäter exemplarisch aufgezeigt werden kann. Sie führt zu einem Finale, das gekonnt den Bogen spannt zur Schlichtheit der Einstiegsszene und außerdem einen ironisch angehauchten Miniauftritt für Helmut Peine in petto hat.

Der „Mordfall Oberhausen“ stellt sich weder besonders kompliziert noch sonderlich überraschend dar, doch er verdeutlicht zwei Errungenschaften der in der Nachkriegszeit langsam in Aufbruchstimmung geratenden Kriminalpolizei: Die Einbeziehung von Zeugen und Helfern aus der Öffentlichkeit wird als nicht immer leichte, aber letztlich doch zielführende Methode zum Finden der „Nadel im Heuhaufen“ vorgestellt, während die deutschlandweite Vernetzung der Mordkommissionen einen Blick über den Tellerrand der eigenen Stadtgrenzen erlaubt und den Tätern eine unerkannte Flucht massiv erschwert. Methodisch mustergültig, im Detail aber noch steigerungsfähig: 3,5 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
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12.01.2015 20:18
#142 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten




Stahlnetz: Bankraub in Köln

Episode 2 der TV-Kriminalserie, BRD 1958. Schauplätze: Köln, Bad Neuenahr. Regie: Jürgen Roland. Drehbuch: Wolfgang Menge. Mit: Helmut Peine, Achim Strietzel, Jutta Zech, Joachim Rake, Fritz Albrecht, Hans Bosenius, Wilhelm Fricke, Wilhelm Grothe, Günther Hüttmann, Dieter Pusch u.a. Erstsendung: 23. April 1958, ARD. Eine Produktion des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands.

Zitat von Stahlnetz (2): Bankraub in Köln
Vier Kölsche Jungs werden für ihr geistesgegenwärtiges Verhalten von der Polizei der Rheinmetropole geehrt. Sie verfolgten die Flucht der zwei Verbrecher, die gerade die Sparkasse Köln-Ehrenfeld überfallen hatten, und konnten den Ermittlern dadurch wertvolle Hinweise liefern. Das Dechiffrieren weiterer Spuren sowie der richtige Umgang mit Zeugen, Verdächtigen und ihren Angehörigen führt Kommissar Klint binnen eines Monats zu den Tätern. Sie müssen wegen ihrer Alibis zunächst wieder laufengelassen werden – doch selbst die raffiniertesten Bankräuber machen Fehler. So kalkulierten sie zum Beispiel das Rheinhochwasser nicht in ihren Plan ein ...


„Dieser Fall ist wahr! Er hat sich so zugetragen, wie wir ihn zeigen.“ – Mit diesen Sätzen stimmte Jürgen Roland sein Publikum auf das „Stahlnetz“ ein. Sie unterstreichen, dass dem Zuschauer hier keine Märchen aufgetischt werden, sondern dass sich eine Tat wie die gezeigte tatsächlich irgendwo in Deutschland abgespielt hat und vielleicht auch wieder abspielen könnte. Doch trotz der berühmten einleitenden Worte war nicht jeder Fall durch und durch „echten“ Ursprungs:

Zitat von Fernsehmuseum Hamburg: Produktionsgeschichte „Stahlnetz“, Quelle
Manche Folgen sind eher nur inspiriert von realen Fällen. Manchmal fehlt der Satz „Dieser Fall ist wahr“ und es heißt nur: „Dieser Fall wurde aufgezeichnet nach Unterlagen der Kriminalpolizei“. Menge selbst, der 21 der 22 Drehbücher verfasst[e], sagt[e] einmal, er hätte mit Jürgen Roland immer von einer letzten Stahlnetz-Folge geträumt, die anfängt mit den Worten: „Dieser Fall ist wirklich wahr.“


In ein ähnliches Horn stößt auch Jürgen Roland selbst, der in seinen einleitenden Worten zur Serie im Booklet der DVD-Erstauflage das häufig für „Stahlnetz“ verwendete Attribut dokumentarisch ausdrücklich negiert:

Zitat von Ein Wort von Jürgen Roland über das „Stahlnetz“, DVD-Booklet, S. 2
Es waren keine Dokumentarfilme. Nein, das waren sie wirklich nicht und wichtiger noch, sie sollten es auch nicht sein. Aber ihre „Stories“ waren an die Realität angelehnt, und es hatte einen guten Grund, dass die Dreharbeiten jeden Tag von den Kriminalbeamten im Atelier verfolgt wurden, die an der Bearbeitung des vorliegenden Falles tatsächlich beteiligt [gewesen] waren.


Im Kontrast zu diesen relativierenden Aussagen über den Wahrheitsgehalt der einzelnen Aufarbeitungen steht der tatsächlich „dokumentarische“ Einstieg in die Episode „Bankraub in Köln“, in der sowohl ein Ausschnitt aus der Tagesschau als auch einleitende Worte des Kölner Kripochefs Kiehne auf das Verbrechen einstimmen. Sie kreieren gleichzeitig ein Film-im-Film-Gefühl, indem sie zur kommenden Inszenierung der Tatabläufe hinleiten und sie damit um eine zusätzliche Zeitebene und einen Außenblick bereichern. In der Tat scheint sich das Herausnehmen inhaltlicher und dramaturgischer Freiheiten erst nach und nach in die Arbeitsweise des Fernsehteams eingeschlichen zu haben, denn ein Bericht des Bundeskriminalamts anlässlich der Arbeitstagung vom 21. bis 26. April 1958 über den hier zugrundeliegenden Überfall auf Sparkassenzweigstelle in Köln-Ehrenfeld deckt sich sowohl in allen wichtigen Daten als auch im Hergang des Raubs sowie den Charakteristika und Erscheinungen der Täter (nur nicht ihren Namen) mit der Erzählung durch Menge und Roland.

Nicht nur wirkt „Bankraub in Köln“ griffiger und rasanter inszeniert als „Mordfall Oberhausen“, auch bekam er mit Helmut Peine eine charismatische und eher noch als Lange beamtentypische Identifikationsfigur, die sowohl mit den väterlich-freundlichen als auch den ruppig-aufbrausenden Tönen vertraut ist und demnach großes Geschick im Umgang mit dem kriminalistischen Faktor „Mensch“ beweist. Der Umgang mit dem „Stahlnetz“-Motiv erscheint auch stimmiger, weil es nun immer bei wegweisenden Enthüllungen anstatt bei eher nebensächlichen Datumsansagen, die stattdessen stumm in Form eines omnipräsenten Abreißkalenders erfolgen, ertönt.

Die knappe, dieses Mal besonders glaubwürdige Nacherzählung eines aufsehenerregenden Verbrechens besticht durch ihre Konzentration aufs Wesentliche und ihr engagiertes Darsteller- und Laienspiel. Köln als Kulisse des Bankraubs bringt Bonuspunkte auf der Lokalkolorit-Skala. Auch wenn die Episode keine der aufregenderen der Reihe ist, so gehört sie doch zu den gelungenen Frühfolgen, die aufzeigen, dass gute Unterhaltung kein großes Brimborium benötigt. 4 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
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14.01.2015 20:56
#143 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten




Stahlnetz: Das zwölfte Messer

Episode 5 der TV-Kriminalserie, BRD 1958. Schauplatz: Ruhrgebiet. Regie: Jürgen Roland. Drehbuch: Wolfgang Menge. Mit: Alexander Kerst, Helmut Peine, Friedrich Georg Beckhaus, Madelon Truss, Gerhard Tichy, Gerda-Maria Jürgens u.a. Erstsendung: 28. November 1958, ARD. Eine Produktion des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands.

Zitat von Stahlnetz (5): Das zwölfte Messer
Aus dem Schlaf hochschreckend überrascht Frau Wesemann einen Einbrecher auf frischer Tat. Bei dem Schurken brennen die Sicherungen durch. Um die schreiende Frau zum Schweigen zu bringen, stößt er mit dem Messer zu, mit dem er sich Zugang zu ihren Wertsachen verschafft hat, und flieht anschließend auf dem Fahrrad des Ehemanns. Die Polizei rekonstruiert den Fluchtweg des Täters, findet Rad und ein Messer, bei dem es sich um die Tatwaffe handeln könnte. Mit der Intuition des geübten Kriminalisten schießt sich Kriminalrat Kerkhan auf das Messer als heißeste Spur ein – es ist das zwölfte Exemplar eines Sets, das vor zwanzig Jahren verschenkt wurde ...


Obwohl es sich um eine relativ frühe Folge handelt, merkt man dem „zwölften Messer“ bereits einige Weiterentwicklungen gegenüber den faktenorientierten, trockeneren Anfangsfällen an. So pflegt nicht nur die Polizei bereits einen jovialeren Umgangston untereinander und tritt den Verdächtigen gegenüber weniger einschüchternd und belehrend auf; auch wichen die anfangs sogar in Titel und Vorspann festgehaltenen Ortsbezüge einer wohlgepflegten Heimlichkeit, denn ein Lohsdorf, wie es als Schauplatz angegeben wird, gibt es im Ruhrgebiet und sogar auf dem ganzen damaligen Bundesgebiet gar nicht. Auch spürt man ein Umdenken in Bezug auf die Mitwirkung der Öffentlichkeit: Von der pfiffigen Hilfsbereitschaft des Fotografen aus Oberhausen ist nicht viel geblieben. Die meisten Hinweise – vor allem die der weiblichen „Informanten“ – taugen nicht das Geringste und dienen nur dem Augenrollen der Zuschauer oder der unnützen Arbeitsbeschaffung für die Polizei, die aus Dutzenden Spuren die eine richtige herausfinden muss.

Unverändert bleibt die offene, manchmal gar schonungslose Darstellung proletarischer Lebensverhältnisse. „Das zwölfte Messer“ unterscheidet dabei nach Arbeit und Wohnort zwischen verschiedenen Gruppen, so etwa zwischen den sicher nicht reichen, aber doch in einer ordentlichen Arbeiter-Mietswohnung lebenden und mit einem Radio ausgestatteten Wesemanns oder der Bäuerin, die sich mehrere Angestellte leistet, auf der einen und den Lagerbewohnern oder Knechten auf der anderen Seite. Und auch wenn einige der Kulissen trostlos und ärmlich ausfallen, so liegt über der gesamten Episode ein Hauch von Frühling und Vorortstimmung. Gemeinsam mit Helmut Peines guter Laune und Alexander Kersts präzisem Auftreten als verantwortlicher Kommissar sorgen diese Attribute dafür, dass aus dem „zwölften Messer“ das erste Wohlfühl-„Stahlnetz“ wird – aufgelockert durch kreative Einfälle wie die Nachzeichnung des Wohnungsgrundrisses auf der morastigen Friedhofserde und eine Reise zwanzig Jahre in die Vergangenheit (beinahe ein Vorgeschmack auf „Das Haus an der Stör“). Eine Abrundung erfährt der Mordfall Wesemann durch seine Auflösung, die den Täter einerseits als habgierigen Taugenichts entlarvt und andererseits einen anno 1958 anscheinend noch verbreiteteren gesellschaftlichen Missstand in ein nicht alltägliches Rampenlicht rückt.

Jürgen Roland gelingt mit „Das zwölfte Messer“ eine „Stahlnetz“-Folge, der es gelingt, unvereinbare Gegensätze zusammenzubringen. Die Ermittlungen von Kerst und Peine gestalten sich gleichzeitig trist und erfrischend, gleichzeitig amüsant-kurzweilig und distanziert-erschreckend; auch zeigen sie einen Nachholbedarf bei Bildung und Sozialisierung jener Personen auf, die nicht am Wirtschaftswunder – und wenn es auch mit kohleschwarz verschmiertem Gesicht daherkommt – partizipieren. 5 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
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14.01.2015 21:11
#144 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten




Stahlnetz: Die Zeugin im grünen Rock

Episode 10 der TV-Kriminalserie, BRD 1960. Schauplatz: Düsseldorf. Regie: Jürgen Roland. Drehbuch: Wolfgang Menge. Mit: Richard Lauffen, Ruth Hausmeister, Wolfgang Völz, Herbert Tiede, Walter Clemens, Benno Gellenbeck, Josef Sieber, Maya Maisch, Vasa Hochmann, Reinhold Nietschmann u.a. Erstsendung: 6. April 1960, ARD. Eine Produktion des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands.

Zitat von Stahlnetz (10): Die Zeugin im grünen Rock
Am 19. August 1939 wurde Berta Kurz wegen des Mordes an ihrem Kind zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Als sie in der Silvesternacht 1959/60 die Leiche ihres Vermieters in einer ärmlichen Schrebergartenkolonie außerhalb von Düsseldorf auffindet, meldet sie das pflichtgemäß der Polizei, auch wenn sie bereits ahnt, dass ihre Vorstrafe sie in den Augen der Beamten verdächtig machen wird. Kommissar Brandis und seine Assistenten Hartwig und Brauer unterbrechen ihre Silvesterfeierlichkeiten, um Berta Kurz zu verhören und ihre Schuld zu beweisen. Eine wichtige Rolle bei diesem Unterfangen spielt eine Frau, die wichtige Zeugenaussagen zum Privatleben des Verstorbenen machen könnte, von der aber plötzlich jede Spur fehlt. Sie ist die Zeugin im grünen Rock ...


Drastischer hätten es die „Stahlnetz“-Macher gar nicht bewerkstelligen können, die hässliche Fratze des Todes zu unterstreichen. Dass der Mord an Herrn Pohlitz ausgerechnet zu Silvester entdeckt wird, eröffnet die Möglichkeit, das bunte Treiben in den Privathäusern und Kneipen der zu Hochzeiten der Kohleförderung noch 700’000 Einwohner zählenden Rheinmetropole Düsseldorf (heute 598’686) dem schäbigen und vom nasskalten Winterwetter aufgeweichten Schrebergarten mit seinen düsteren Wolldecken vor den Bungalowfenstern und der fehlenden Stromversorgung gegenüberzustellen. Die Beamten, die von einer feuchtfröhlichen und verheißungsvollen Feiernacht in diese Einöde gerufen werden, sind wahrlich nicht zu beneiden:

Zitat von Nora Hilgert: Unterhaltung, aber sicher!, Bielefeld 2013: transcript Verlag, S. 166
Eine weitere Eigenschaft, die alle „Stahlnetz“-Kommissare [und auch die späteren Polizei-Helden Herbert Reineckers (Anm. d. Verf.)] verbindet, ist die unbedingte Einsatzbereitschaft. Für sie ist es egal, ob sie zum Dienst eingeteilt worden sind oder nicht, denn als Repräsentanten der Staatsmacht haben sie ihre privaten Bedürfnisse unterzuordnen. Mehr noch wird suggeriert, dass die Kriminalpolizisten anstandslos alles hinter sich lassen, auch ihre (enttäuschten) Frauen, wenn es um das Gemeinwohl und die Sicherheit der Bürger, also die schnelle Ergreifung eines Täters geht. Die Inszenierung einer Aufopferung für das „große Ganze“ lässt die Ermittler als stille Helden, als Heroen des Alltags erscheinen.


Problematisch an der Konstruktion der dargelegten Geschichte erweist sich die Sicherheit des Publikums, dass Berta Kurz an dem Verbrechen zwangsläufig unschuldig sein muss. Diese offenkundige Tatsache ergibt sich nicht nur aus dem Mitleid, das der Frau aufgrund ihrer Lebensumstände entgegengebracht wird, sondern zugleich auch aus der von Richard Lauffen überzeugend dargebrachten stillen Dominanz in den Befragungen zum Fall. Zugunsten „der Kurz“, wie sie abfällig im Polizistenduktus bezeichnet wird, spricht zudem die Zeit ihrer ersten Verurteilung: In einem noch wenig selbstbewussten Deutschland gerade einmal 15 Jahre nach dem Krieg wog der alleinige Umstand, dass das Urteil wegen Kindstötung unter Naziherrschaft keinen halben Monat vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhängt wurde und sich damit in Anbetracht der im Dritten Reich verübten Verbrechen reichlich zweifelhaft darstellt, die eventuelle Schuld der Berta Kurz vollständig auf. Gleichsam führen das Bewusstsein über die Schwierigkeit, Berta Kurz als bösartige Kindsmörderin abzutun, und das Wissen über den üblichen Ausweg von Kriminalstoffen bei allzu verdächtigen Personen dazu, dass die im Endeffekt präsentierte Auflösung wenig überraschend und folglich auch wenig befriedigend erscheint. Dies ist umso mehr der Fall, als für den Mord an Laubenpiper Pohlitz eine absolut niederträchtige Motivation vorlag, sofern man eine Summe von 25 Mark überhaupt als eine solche bezeichnen mag.

Mit Richard Lauffen, Wolfgang Völz und Herbert Tiede ist ein verhältnismäßig prominentes Ermittlertrio vor der Kamera versammelt, das neben seinen beruflichen Meriten Einblick in die Privatleben der dargestellten Kommissare erlaubt. Gerade diese Offenherzigkeit in Bezug auf die Polizisten erweckt den Anschein, dass „Stahlnetz“ ausdrücklich Identifikationsmöglichkeiten für die verschiedensten Zuschauergruppen schaffen wollte: Bei der Kripo, so liest man aus den Untertönen heraus, arbeiten mondäne Männer von Welt, biedere Familienväter und joviale Junggesellen. Das Konzept schien aufzugehen: Mit „Die Zeugin im grünen Rock“ erreichte die ARD bei Erstsendung im April 1960 97 Prozent der Zuschauer.

Eine weniger vorhersehbare Struktur hätte der Episode den benötigten Schwung gegeben, den Charme der anfänglichen Silvesterszenen länger lebendig zu bewahren, während das Endergebnis stellenweise langatmig und vorhersehbar gerät. Gerettet wird die Episode von einer brillanten Besetzung in den Ermittlerrollen und durch das intensive Spiel Ruth Hausmeisters, die von der Maske nach besten Möglichkeiten unterstützt wurde, um die unmenschliche Last falscher Verdächtigungen deutlich zu machen. 3,5 von 5 Punkten.

Percy Lister Offline



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18.01.2015 14:00
#145 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten

Pohlitz' Untermieterin Berta Kurz wird dem Zuseher gleich zu Beginn als verhärmt, abweisend und kurzsilbig präsentiert. Sie verbirgt offenbar etwas, was im Laufe der Ermittlungen bestätigt wird. Ihr Gegenpart, Kommissar Brandis vom Morddezernat, bemüht sich um Unvoreingenommenheit, kann jedoch seine persönlichen Vorurteile bzw. die Erfahrungen seines Berufslebens schwer kaschieren. Einerseits soll er zu Beginn möglichst neutral vorgehen, andererseits haben ihm die langen Jahre in der Ausübung seines Berufs gelehrt, wachsam zu sein, versteckten Hinweisen nachzugehen und bestimmte Muster einzuhalten.

Zitat von Nora Hilgert: Unterhaltung, aber sicher! (Transcript Verlag)
Hauptermittler Brandis begegnet der dringend Tatverdächtigen Berta Kurz mit leiser, aber doch eindringlicher Stimme. Seine Dominanz gegenüber der Verhörten sowie sein forschendes Gesicht werden kameratechnisch durch eine nahe Untersicht verstärkt; der Zuschauer ist deutlich näher an seinem Gesicht als an dem von Berta Kurz, die in einer halbtotalen Aufsicht auf dem Bett ihrer Zelle sitzt. Die Dominanz des Ermittlers gegenüber der vermeintlichen Täterin wird auch nicht aufgehoben, als er sich zu ihr herunter beugt. Vielmehr wirkt er aus ihrer Sicht noch bedrohlicher, denn mit souveräner und abgeklärter Stimme suggeriert er ihr, dass sie und nicht die "Waltraud" viele Gründe gehabt hätte, das Opfer Pohlitz zu erschlagen. Die Inhaftierte reagiert nervös und gerät in den weiteren Vernehmungen durch Brandis immer mehr durch laute Geräusche, schnelle Bewegungen oder die Konfrontation mit ihrer eigenen Vergangenheit unter Druck.




Dadurch, dass Brandis zu Beginn als weltmännisch eingeführt wird (seine Silvesterfeier bewegt sich auf einem höheren Niveau als jene seiner ihm hierarchisch unterstellten Kollegen), nimmt das Publikum an, dass ihm der kleinbürgerliche Fall ein wenig zu minderwertig und unbedeutend erscheinen könnte und er ihn lustlos und routiniert lösen wird. Richard Lauffen widerlegt diese Zweifel jedoch schnell durch sein Engagement und die Einbindung mehrerer Abteilungen seiner Dienststelle. So tauscht er sich regelmäßig mit Experten des Polizeilabors und seinem direkten Vorgesetzten aus. Hier zeigt er, dass er kein Detail außer Acht lassen will, auch wenn er sich natürlich eine persönliche Meinung gebildet hat. Sein trockener Sinn für Humor und das Bedürfnis, nicht fehl zu gehen, helfen ihm, die Routine seines Berufsalltags zu durchbrechen und korrekt zu handeln. Ohnehin zeigt "Die Zeugin im grünen Rock" ein schönes Beispiel für eine Führungspersönlichkeit, die in ein System eingebunden ist, bei dem reibungslose Kooperation nicht nur über den eigenen Erfolg, sondern auch über das Schicksal anderer entscheidet. Brandis erteilt Anweisungen und leitet die Zusammenarbeit in seiner Abteilung, hat aber gleichzeitig gegenüber seinem Vorgesetzten eine Bringschuld: er ist für den Stand der Ermittlungen verantwortlich und muss den Kripochef laufend informieren und für Fehler oder Unterlassungen seiner Mitarbeiter gerade stehen. Dafür genießt er das Vertrauen seines Vorgesetzten und erhält dessen Rückhalt.

Gubanov ( gelöscht )
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18.01.2015 15:05
#146 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten




Stahlnetz: E ... 605

Episode 12 der TV-Kriminalserie, BRD 1960. Schauplatz: Essen. Regie: Jürgen Roland. Drehbuch: Wolfgang Menge. Mit: Heinz Engelmann, Wolfgang Völz, Dieter Eppler, Helmuth Schneider, René Magron, Peter Striebeck, Dinah Hinz, Victoria von Campe, Raymond Joob, Ludwig Meybert u.a. Erstsendung: 3. Oktober 1960, ARD. Eine Produktion des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands.

Zitat von Stahlnetz (12): E ... 605
Selbst ihre peniblen Vorbereitungen bringen der Bande um die vorbestraften Gangster Charly Siegert und Rudi Elling nicht viel ein. Der Überfall auf eine Filiale der Essener Stadtsparkasse läuft glatt und auch die Flucht und das Verstecken der Beute werden von der Polizei nicht wesentlich erschwert. Und das, obwohl Oberkommissar Opitz vom Raubdezernat betont, wie wichtig es für die Polizei ist, in den ersten Minuten nach dem Verbrechen den Vorsprung der Täter einzuholen. Doch diese zerfleischen sich bald von ganz allein: Als Elling beginnt, Ansprüche zu stellen, bringt Charly ihn kaltblütig unter die Erde ...


Viele der in „Stahlnetz“ erzählten Fälle können und wollen ihre zeittypische Komponente nicht verbergen. In der Adaption der Raubüberfälle der Essener Schäfer-Bande tauchen solche Hinweise auf die prosperierenden, aber durchaus unvorsichtigen oder gar „wilden“ Sechzigerjahre in Hülle und Fülle auf: Ein Geldtransport, der von der Bank aus in einem Privatwagen durch ungesicherte Personen durchgeführt wird, erscheint dem heutigen Zuschauer ebenso fantastisch wie der Umstand, dass Autokennzeichen ohne Vorlage jedweder Dokumente angefertigt und in einer Art Hinterhofwerkstatt ausgegeben werden. Das Fehlen von Meldelisten oder technischen Möglichkeiten und rechtlichen Grundlagen für Fangschaltungen im Polizeipräsidium (sic!) tun ihr Übriges hinzu, um den ermittelnden Oberkommissaren die Köpfe zum Rauchen zu bringen. Mit Heinz Engelmann und Wolfgang Völz stand für „E ... 605“ in diesen Rollen gewissermaßen das Dream Team der „Stahlnetz“-Ermittler vor der Kamera, das aus einem herrlichen Kontrast aus Engelmanns Verbissenheit und Völz’ lockerer, schnippischer Art lebt, wobei es nicht mit stilisiertem Heldentum auftrumpft, sondern tatsächlich authentisch und unaufdringlich vorgeht. Dies wird bereits zu Beginn durch Engelmanns Off-Kommentar über die Zielstrebigkeit und den Zeitdruck, unter dem sowohl Kripo als auch die Flüchtigen nach der Tat stehen, unterstrichen:

Zitat von Einleitung der Ermittlungen in „E ... 605“ durch Kriminaloberkommissar Opitz
Die ersten Minuten nach einem Überfall sind am wichtigsten. Wir müssen sofort angreifen. Wir müssen versuchen, die Vorgabe der Verbrecher gleich in der ersten Runde einzuholen. Manchmal haben wir Glück. Aber wenn es nicht klappt, wenn die Räuber zunächst entwischen – am Ziel sind sie noch längst nicht. Das Rennen geht über eine sehr lange Distanz. [...] Sollten die Verbrecher uns heute entkommen, mussten wir jetzt gleich hier das Netz auslegen, in dem sie sich fangen würden.


Mit „E ... 605“ sammelte die „Stahlnetz“-Reihe Erfahrungen in der Kunst, die Spannung behördlicher Klärungsprozesse durch Elemente aus Heist Movies herauszukitzeln. Da ein solches Set-Up, wie es später in Perfektion auch in „Der fünfte Mann“ präsentiert werden würde, einen großzügigen Zeitrahmen erfordert, dehnte man das bis dato bei zirka einer Stunde gehaltene Sendeformat auf großzügige 95 Minuten aus, in denen viele Details gezeigt werden konnten, die andernfalls hätten unter den Tisch gekehrt werden müssen. Damit geht auch die Abkehr von der Überbrückungsstrategie der ersten Folgen einher, in der weniger zielführende Spuren durch Erläuterungen eines Erzählers nur am Rande abgehandelt werden (im vorliegenden Fall hätten sich dafür z.B. die langen Szenen im Kaufhaus oder im Waldrestaurant angeboten, die Roland stattdessen nun als Werbefläche für seine Wallace-Verpflichtungen bei der Rialto-Film nutzte). Dass die Episode auch als Zweiteiler existiert, könnte sich ebenfalls als falsche Fährte erweisen, denn das Einschneiden des Abspanns des angeblichen zweiten Teils auch nach dem Cliffhanger des ersten sowie das Fehlen eines Vorspanns zu Beginn der zweiten Hälfte sprechen eher für eine Erstsendung „am Stück“.

Was genauer als die Form der Ausstrahlung überliefert wurde, sind die Probleme, mit denen sich v.a. Serienaushängeschild Jürgen Roland nach der Übertragung von „E ... 605“ konfrontiert sah. Karl-Heinz Schäfer, das Vorbild für Dieter Epplers brutalen Verbrecher Charly Siegert, der 1959 wegen Überfällen in Neuss und Essen zu 15 Jahren Zuchthaus mit Sicherungsverwahrung verurteilt worden war, goutierte die offenbar allzu wirksame Aufarbeitung seiner Figur und seiner Taten für die Öffentlichkeit vor den Fernsehbildschirmen keineswegs:

Zitat von Telemann: Schäferstunde, Der Spiegel, 36/1961, S. 59
Was einem als Fernseh-Schaffenden so alles passieren kann. Da sackte im Hamburger Funkhaus eines Morgens ein Handschreiben in den Briefkasten, adressiert an „Herrn Regisseur Rolander, Westdeutsches Fernseh.“ Absender: Karl-Heinz Schäfer, Werl, Langenwiedenweg 46, Gefg.-Nr. 2378/59. Inhalt: „Am 3tten Oktober 1960 wurde im Stahlnetz-Programm des Westdeutschen Fernsehens ein Film über mich veröffentlicht [...]. Wenn Sie auch die Namen der Täter änderten, so weiß zweifellos jeder, wer mit dem Hauptdarsteller identisch sein soll, nämlich ich, Schäfer.“ Weiter hieß es: Bei der „filmgerechten Auswertung der Straftaten“ sei der Adressat Rolander so ehrabschneiderisch gewesen, ihm, dem Schäfer, falsche Motive sowie einen Mordversuch anzudichten, so dass Endunterfertigter nicht umhin gekonnt habe, Verleumdungs-Anzeige zu erstatten. [...] „Ich bin in einer Weise dargestellt worden, deren Brutalität und Skrupellosigkeit beleidigend ist.“


Von Roland wurde in der angesprochenen Anzeige eine Summe von 100’000 D-Mark gefordert, die „in Anbetracht der Höhe des Verdienstes, den Regisseur Jürgen Roland auf Kosten dessen, dass er mich verleumdete und beleidigte, erzielte“ (ebd.) erhoben wurden. Der Fall löste sich auf eine besonders ironische Weise, indem der NDR-Anwalt Professor Bussmann argumentierte: „Gerade die Fülle der (vom Kläger) hervorgehobenen Abweichungen zeigt, dass es sich eben nicht um eine Darstellung seiner Persönlichkeit handelte“ (ebd.). Im gleichen Atemzug, in dem Bussmann mit dieser Logik dem Sender eine Zahlung ersparte, stellte er auch die Glaubwürdigkeit der „Stahlnetz“-Serie, die im Folgenden mit dem Hinweis „Dieser Fall ist wahr!“ vorsichtiger umgehen sollte, in ein zweifelhaftes Licht.

Die Detailverliebtheit, mit der „E ... 605“ den Sparkassenüberfall mitsamt Vorbereitung und Flucht nacherzählt, entschleunigt die Handlung und hält sie doch von Anfang bis Ende interessant. Unterstützt wird der Fall von gelungenen Darstellerleistungen auf der guten und der bösen Seite sowie von ironischen Schnitten wie etwa zu Beginn (Raub der Geldtransport-Tasche unter dem Kaufhaus-Banner „Jetzt zugreifen“) oder beim Tod des Komplizen. 4 von 5 Punkten. Geübte Ohren, die um die wahren Hintergründe des Falles wissen, werden übrigens heraushören, wie Wolfgang Völz Opitz’ Sekretärin „Schäferin“ nennt.

Gubanov ( gelöscht )
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25.01.2015 21:01
#147 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten




Stahlnetz: In der Nacht zum Dienstag

Episode 14 der TV-Kriminalserie, BRD 1961. Schauplatz: Düsseldorf. Regie: Jürgen Roland. Drehbuch: Wolfgang Menge. Mit: Heinz Engelmann, Wolfgang Völz, Frank Straass, Kurt Klopsch, Hela Gruel, Armas Sten Fühler, Wolfgang Condrus, Manfred Greve, Erich Dunskus, Lore Schulz u.a. Erstsendung: 7. November 1961, ARD. Eine Produktion des Norddeutschen Rundfunks.

Zitat von Stahlnetz (14): In der Nacht zum Dienstag
Falls sich ein für die Nachtschicht eingeteilter Düsseldorfer Polizeibeamter auf einen ruhigen Dienst freute, so durchkreuzen verschiedenste Verbrechen quer durchs ganze Stadtgebiet diese Pläne. Ein Liebespaar wird im Wald überfallen; ein Betrunkener in der Nähe eines Bahnhofs ausgeraubt; ein Autofahrer, der seinen Wagen gegen einen Baum setzte, begeht Fahrerflucht; kurz darauf verschwindet ein Omnibus. Im Morgengrauen wird das Rad einer Studentin und kurz darauf auch ihre Leiche gefunden. Für Kommissar Kiesel gibt es nur wenige Anhaltspunkte – gerade weil alle Verbrechen offenbar aus bloßer Habgier und Abenteuerlust begangen wurden. Dann kommt ihm der geniale Einfall: Was, wenn hinter allen Vergehen derselbe Täter steckt?


Episodisch und stellenweise lapidar rollt das Geschehen der Tatnacht vor den Augen der Zuschauer ab. Obgleich (oder gerade weil) die Ereignisse einer gewissen Trivialität nicht entbehren, setzte Jürgen Roland ganz auf die atmosphärische Schiene und kostete die Dunkelheit der Nachtstunden in einer manchem Kinofilm überlegenen Bildlichkeit aus, die dankenswerterweise bis heute in einer erstklassigen Qualität erhalten geblieben ist. Außenaufnahmen dominieren fast die gesamte Episode, die dadurch den Prozess vorantreibt, „Stahlnetz“ von seiner anfänglichen TV-Studio-Optik und stellenweisen Muffigkeit immer weiter zu distanzieren. Sie dienen zudem als willkommene Pforte zum mittlerweile sichtlich gesundeten und wohlstandsverwöhnten Sechzigerjahredeutschland, in dem, so scheint unterschwellig mitzuschwimmen, es einigen so gut geht, dass sie aus Langeweile zu Rowdys werden.

Zitat von Revierpassagen: TV-Nostalgie (13): „Stahlnetz“ – der Krimi-Straßenfeger von damals, Quelle
Wie lange das alles her ist, zeigt sich auch an Details: Da fallen altbackene Sätze wie „Der Lümmel hat sich verkrümelt“. Da wird in jeder Lebenslage kräftig geraucht. In einem „Stahlnetz“-Fall von 1961 darf der Kommissar („Overstolz“-Werbeikone Heinz Engelmann) einer soeben festgenommenen Prostituierten ganz selbstverständlich und breit grinsend einen Klaps auf den Po geben. Man wagt sich gar nicht auszumalen, welch einen „Shitstorm“ eine solche Szene heute zur Folge hätte. Und noch eine bemerkenswerte Einzelheit von vorgestern: In [verschiedensten „Stahlnetz“-Folgen] taucht – ausgesprochen aufdringlich – nur eine einzige Automarke auf, nämlich Opel. Sollte es damals schon vereinbarte Schleichwerbung gegeben haben, womöglich noch für die eine oder andere Gegenleistung? Heidewitzka, Herr Kapitän!


Die kräftige Motorisierung, mithin ebenfalls ein gut sichtbares Prosperitätsmerkmal, fiel auch einem amüsierten Rezensenten des Hamburger Abendblattes auf. Die Polizeiautos, die er beneidet, sind dann aber doch keine Opels, sondern waschechte Porsches.

Zitat von Fernsehen heute: Stahlnetz, Hamburger Abendblatt, 8.11.1961
Wäre der Rezensent ein Krimineller, er würde auf der Stelle diesen höchst gefährlich gewordenen Job aufgeben, seine kriminellen Neigungen unterdrücken und seine Sachkenntnis im Dienste der Polizei oder der – Presse austoben. Scherz beiseite – imponierend präzise Arbeit der üppig motorisierten nordrhein-westfälischen Landeskriminal- und Schutzpolizei wurde vorgeführt, und die Einkesselungsjagd sicherte dem spannenenden Feature Rolands ein hochdramatisches Ende.


Besonders als Fortsetzung zu „E ... 605“ wirkt „In der Nacht zum Dienstag“ äußerst stimmig, weil hier erneut auf das Duo Engelmann-Völz zurückgegriffen und die gemeinsame Interaktion noch einmal merklich ausgebaut wurde. Die clevere Schauspielerführung merkt man auch den Szenen mit Haupttäter Manfred Greve an, der über die meiste Zeit nur schemenhaft zu erkennen ist und erst dann mit einer markanten Profilaufnahme vorgestellt wird, als auch die Polizei über seine Personenbeschreibung verfügt. Dabei kommt es der Episode wie so häufig nicht auf ein Täterrätsel an – sie schafft im Finale stattdessen eine besondere Spannung durch ihre geschickte Täuschung mittels einer Polizeiuniform. Versteckt sich hier ein Menge’scher Tadel gegenüber der angeblichen Obrigkeitshörigkeit der Deutschen?

Neben der gehörigen Beinarbeit, die Polizisten verrichten müssen, verdeutlicht die Episode auch, dass selbst die Fälle, die zunächst wie Lappalien erscheinen, auf die Beteiligten häufig schlimm genug wirken. Zudem wird ersichtlich, dass die Kriminalistik zwar auf Unterstützung von Gerichtsmedizin und Spurensicherung zählen kann, dass aber dennoch immer auch ein guter Riecher dazugehört, um eine Tat aufzuklären. Wer sollte den haben, wenn nicht Heinz Engelmann? 4,5 von 5 Punkten.

Percy Lister Offline



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01.06.2015 13:05
#148 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten

BEWERTET: "Spur 211" (Teil 1)
(Erstausstrahlung innerhalb der "Stahlnetz"-Reihe als 16. Folge am 28. November 1962)

mit: Heinz Engelmann, Rudolf Rhomberg, Hannelore Elsner, Jan Hendriks, Günther Stoll, Gudrun Thielemann, Friedrich Georg Beckhaus, Ernst Hilbisch, Sigfrit Steiner, Günther Neutze, Karl Heinz Gerdesmann, Gerda-Maria Jürgens, Christa Siems u.a. | Regie: Jürgen Roland

Milsburg, eine kleine Gemeinde in der Nähe von Hannover. Der Tankstellenbesitzer Vormann schließt seinen Betrieb ab und geht mit den Tageseinnahmen zu seiner wenige Schritte entfernten Wohnung. Als er und seine Frau beim Abendessen sind, werden sie von zwei maskierten Räubern überfallen, die Vormann und seine Frau mit einer Schusswaffe schwer verletzen. Wenige Monate später wird Herbert Fahrnberg, ein Handelsvertreter tot aus dem Kanal gezogen, auch er wurde erschossen und beraubt. Im darauffolgenden Frühling findet ein Landstreicher die skelettierte Leiche eines Mannes im Wald. Bei den Untersuchungen stellt sich heraus, dass es sich um Erwin Pirschl handelt, einem Mann, der auf die gleiche Weise starb wie Fahrnberg. Für Kriminaloberkommissar Semmler steht fest: es handelt sich um die selben Täter....



Bei Episode 16 handelt es sich wie bei "E 605" um eine Doppelfolge. Aufgrund der Ausführlichkeit, mit der der Kriminalfall aufgerollt wird, benötigt die Geschichte mehr Zeit, um erzählt zu werden. Die Akribie, mit der Spuren und Indizien gesammelt werden, spricht für die Gründlichkeit, mit der die Polizei vorgeht. Zudem werden anhand der beiden Hauptermittler zwei unterschiedliche Typen von Beamten vorgestellt. Aus der anfänglichen Anonymität der Polizisten hat sich im Laufe der Jahre eine Konzentration auf Eigenheiten und verlässliche Persönlichkeitseigenschaften entwickelt, die besonders häufig den Schauspieler Heinz Engelmann in der Hauptrolle sehen.

Zitat von Nora Hilgert: Unterhaltung, aber sicher! Populäre Repräsentationen von Recht und Ordnung in den Fernsehkrimis 'Stahlnetz' und 'Blaulicht', 1958/59 - 1968", Seite 202 ff.
Eine kleine, eindrückliche Charakterstudie des Kriminalen legt Roland in der Doppelfolge "Spur 211" im Jahr 1962 vor. Im Mittelpunkt der 16. Folge stehen der leitende Kriminaloberkommissar Semmler und sein Mitarbeiter Kriminalhauptmeister Rathje. Nach einer längeren szenischen Schilderung der ersten Handlungselemente zieht nicht sogleich Semmler die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich, sondern sein Mitarbeiter Rathje. Dies mag nicht nur an seiner massigen Statur liegen, mit der er im Bild Präsenz zeigt, sondern auch an der Übernahme des Off-Kommentars. (...) Dass er sich während seiner unberechenbaren Arbeitszeiten keiner Askese hingibt, kann der Zuschauer sogleich sehen, steht doch ein appetitliches, "gut bürgerliches" Abendessen auf seinem Schreibtisch, auf einem karierten Platzdeckchen angerichtet und mit einem schäumenden Glas Bier garniert. (...) Gleichzeitig enthüllt Roland mit Hilfe des Schauspielers Rudolf Rhemberg und der humorigen Anlage der Rolle des Rathje erneut ein Stück Menschlichkeit im Beruf des Kriminalermittlers und erhöht so das Identifikationspotenzial beim Zuschauer.


Um Engelmanns Unermüdlichkeit bei der Ausübung seiner Berufung - Beruf wäre zu wenig gesagt - noch deutlicher hervorzuheben, bildet Rhemberg das gemütliche Gegenstück und lässt seinen Chef somit noch makelloser und agiler erscheinen. Neben dem routinierten Engelmann sehen wir mit Jan Hendriks und Hannelore Elsner zwei Jungschauspieler in den Verbrecherrollen, die der unglaublichen Kaltblütigkeit und der Grausamkeit in der Ausführung der Morde ein menschliches Gesicht verleihen. Die unheimlich ablaufenden Taten werden von Martin Böttchers Musik untermalt und geschehen im Schutz der Dunkelheit. Für die Polizei ist es, als ob ein Phantom aus dem Nichts auftauchen würde und sich nach erfolgter Tat wieder auflösen würde. Der mäßige pekuniäre Erfolg der Verbrechen steht in keinem Verhältnis zum Grad der Handlungen und zeigt, dass Dilettanten gerade deshalb so gefährlich sind. Der Cliffhanger am Ende der ersten Episode erweist sich als Schockelement, fast, als wollte er den Zuschauer aus der Lethargie reißen, in die dieser zusammen mit dem Hauptmeister Rathje angesichts der schleppenden Aufklärung verfallen war.

Gubanov ( gelöscht )
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27.07.2015 12:54
#149 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten




Der Ermittlungen zweiter Teil:
Aus den Polizeiakten der Grenzregionen


Deutschland ist groß, aber es hat seine Ränder – vor allem nach der Teilung des Landes durch die Alliierten. „Stahlnetz“ hält sich auch in dieser Hinsicht an seine Devise, ein authentisches Bild zu zeichnen, und wagt sich in Grenzregionen vor, die sonst nur selten von Kriminalfilmen oder gar TV-Produktionen erschlossen werden. Grenzen werden zum Beispiel dann wichtig, wenn es um das Verschwinden nach der Tat, um Flucht geht, die an einer Grenze verhindert werden oder gelingen kann. Grenzübergänge, solche kritischen Punkte, zeigt „Stahlnetz“ dann natürlich auch, z.B. den für den Berliner Transitverkehr in Dreilinden.

Überhaupt nimmt Berlin eine Sonderstellung unter den hier als Grenzregionen zusammengefassten Ecken des Landes ein. Auch wenn es dem „Stahlnetz“ vordergründig z.B. um Raubüberfälle geht, schwingt doch leise der Tenor mit, dass die noch größeren Verbrecher, die sozialistischen Systemfeinde, nur einen Katzensprung entfernt sind. Wie wird etwa in „Das Haus an der Stör“ über das hergefallen, was im Westjargon schlicht die Zone heißt? Die Serie zeigt funktionierende polizeiliche Strukturen auch deshalb, um die Überlegenheit des westdeutschen Rechtsstaats zu demonstrieren. Hier kann sie es an besonders exponierter Stelle.

Dass andererseits gerade bei „Grenzüberschreitungen“ westlich der Republik die Serie, in der die Verbrechen des kleinen Mannes geschildert werden, ein gewisses weltmännisches Flair erhält, ist ein zusätzlicher Effekt, den die Macher sicher gern mitgenommen haben.

Zugehörige Besprechungen:

• Episode 03: Die blaue Mütze (Schauplatz: Berlin)
• Episode 07: Treffpunkt Bahnhof Zoo (Schauplatz: Berlin)
• Episode 08: Das Alibi (Schauplätze: Dortmund / Niederlande [Utrecht / Alkmaar])
• Episode 22: Ein Toter zuviel (Schauplätze: Köln / Belgien)

Gubanov ( gelöscht )
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27.07.2015 13:32
#150 RE: Der Stahlnetz-Grandprix Zitat · Antworten




Stahlnetz: Die blaue Mütze

Episode 3 der TV-Kriminalserie, BRD 1958. Schauplatz: Berlin. Regie: Jürgen Roland. Drehbuch: Wolfgang Menge. Mit: Paul Edwin Roth, Heinz Peter Scholz, Wolfgang Condrus, Karin Stoltenfeldt, Lia Condrus, Willy Witte, Kurt Klopsch, Werner Schumacher, Mario Ahrens, Jella Köppen u.a. Erstsendung: 16. Juni 1958, ARD. Eine Produktion des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbands.

Zitat von Stahlnetz (3): Die blaue Mütze
Überfall auf einen Seifenhändler. Der alte Mann ruft um Hilfe und tatsächlich alarmiert ein Zeuge rasch die Polizei. Die Täter können dennoch entkommen. Alles, was sie am Tatort zurücklassen, ist eine Mütze aus blauem Wachstuch. Kriminalobersekretär Wetzlar muss sich mit diesem mageren Hinweis und dem Umstand, dass es sich bei den Räubern um Halbstarke handelt, begnügen und sucht nach einem Anhaltspunkt für die Untersuchungen. In einer Bar, die von den Jugendlichen Neuköllns gern frequentiert wird, trifft er schließlich auf einen ersten Tatverdächtigen ...


Im hochpolitischen Umfeld West-Berlins (noch dazu in Neukölln, so knapp vor der Sektorengrenze) versprüht die Episode „Die blaue Mütze“ kriminalistischen Biedermeier-Charme und kündet damit vom Rückzug des Individuums von der weltpolitischen Bühne. Der Berliner, so wird gezeigt, arrangiert sich mit seiner Insellage, die den Vorteil der Beschaulichkeit mit sich bringt. Auch wenn hunderttausende Menschen unter den Dächern von Neukölln leben, so könnte Kriminalobersekretär Wetzlar seinen Dienst genauso gut auch in einem Hundertseelennest versehen. Die Verbrechen sind kaum andere: Von einem Raubüberfall auf einen Seifenhändler – ohne Todesfolge, Beutesumme unwesentlich – und dem Diebstahl von fünf Hühnern aus einer Gartenanlage wird erzählt. Gemütliche Fünfzigerjahrewelt!

Gelingt der Folge schon das Paradoxon, in ihrer Schilderung von Verbrechen höchst rechtschaffen zu wirken, so unterstreicht sie diese nostalgische Harmlosigkeit noch einmal mithilfe ihrer Aufnahmen von Originalschauplätzen, die von den einfachen Lebensverhältnissen der Leute auf dem Kiez, vom Treiben auf den Straßen und U-Bahnhöfen, den kleinen, inhabergeführten Geschäften und den im Dienst Erbsensuppe essenden, spazieren gehenden Polizisten zeugen. Dass der Fall nicht spektakulär ist, kann man der „blauen Mütze“ also gar nicht anlasten; diese Taktik ist Bestandteil eines großen Ganzen, einer sich zurücknehmenden Erzählstruktur, die ein einmaliges und heute in hohem Maße wertvolles Zeitporträt ermöglicht.

Zugleich hebt sich Jürgen Roland mit seiner Inszenierung von der zeittypischen Statik und stilistischen Hilflosigkeit ab, die den meisten studiobasierten Live-Theater-Abfilmungen jener Tage innewohnt. In erstaunlichem Maße verfügen selbst die frühen „Stahlnetz“-Folgen nicht nur über so etwas Lapidares wie eine hohe Außenaufnahmen-Quote; sie vermitteln vielmehr ein vollwertiges „Mittendrin“-Gefühl, wie es in anderen TV-Produktionen erst Jahre später erzielt wurde. Roland stellt seine Vorreiterrolle in Hinblick auf die optische Gestaltung der Fälle auch in „Die blaue Mütze“ unter Beweis, der er eine dynamische Kameraführung, eine abwechslungsreiche und über weite Strecken durch kunstvolle Übergänge geprägte Schnitttechnik sowie Stilelemente von hartem Licht-Schatten-Chiaroscuro bis zu stummfilmähnlichen Elementen (der später nicht wieder aufgegriffene Zeuge am Fenster des Seifenladens) angedeihen lässt.

Paul Edwin Roth und Wolfgang Condrus spielen vor der beschaulichen und allgegenwärtigen Kulisse des Fünfzigerjahre-Neuköllns ein harmloses, aber vielsagendes Katz- und Maus-Spiel, das sich trotz „Geringfügigkeit“ zu den frühen Höhepunkten der „Stahlnetz“-Serie zählen darf. Auf das Wie kommt es Roland an – einerseits auf das Wie der Inszenierung, andererseits auf das Wie der Ermittlung, das auch den „kleinen Fischen“ (sowohl unter den Halbstarken als auch unter den Polizeibeamten) zu einer Dreiviertelstunde glanzloser Aufmerksamkeit verhilft. Gute 4,5 von 5 Punkten.

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