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 Film- und Fernsehklassiker international
Percy Lister Offline



Beiträge: 3.589

18.09.2016 14:01
Letztes Jahr in Marienbad Zitat · Antworten



BEWERTET: "Letztes Jahr in Marienbad" (L'Année dernière à Marienbad / L'Anno scorso a Marienbad) (Frankreich/Italien 1960/61)
mit: Delphine Seyrig, Giorgio Albertazzi, Sacha Pitoëff, Françoise Bertin, Luce Garcia-Ville, Héléna Kornel, Françoise Spira, Karin Toche-Mittler, Pierre Barbaud, Wilhelm von Deek, Jean Lanier u.a. | Drehbuch: Alain Robbe-Grillet | Regie: Alain Resnais

In einem Luxushotel vertreiben sich die reichen Gäste die Zeit mit Theater, Glücksspiel und Nichtstun. Wie erstarrt erscheint diese Welt und die Menschen darin wie Statuen. Dazwischen ein Mann, der eine Frau begehrt und sie an die gemeinsame Zeit im gleichen Hotel vor einem Jahr erinnert - oder war es doch ein anderes? Sie hätten sich geliebt und wollten zusammen fortgehen, doch sie erbat sich ein Jahr Bedenkzeit. Die Frau kann oder will sich nicht erinnern.... (1)

Es besteht eine gewisse Scheu, sich diesem "ersten kubistischen Film" (Festivalbulletin der Biennale 1961) zu nähern und sich analytisch damit auseinanderzusetzen. Stimmen werden laut, man könne der geschlossenen Gesellschaft von Alain Resnais' mit dem Goldenen Löwen prämierten Film nicht gerecht werden. So, als übertrage sich das Zaudern, die Zweifel und die traumwandlerische Introversion auf die Zuschauer, denen die Fähigkeit abhanden kommt, ihre Reaktionen auf den Film in Worte zu kleiden. Gedreht wurde vom September bis November 1960 in den Photosonor Studios Paris, wobei die Außenaufnahmen einige von Deutschlands schönsten Schlössern in kunstvolles Licht rückten: Nymphenburg, Oranienburg und Schleißheim. Im Mittelpunkt stehen mit den namenlosen Hauptfiguren zwei Gegenpole, wobei der Mann den aktiven Teil und die Frau den passiven verkörpert. Aus dem inneren Monolog, der sich perpetuierend durch die kalten Mauern bewegt und einen Halt sucht, an dem er sich festmachen kann, erwächst nach und nach eine eindringliche Forderung nach Aktion. Das narkotisierte Dornröschenschloss hebt den Unterschied zwischen den Marmorstatuen seiner luxuriösen Umgebung und den Vertretern der Spezies Mensch erst spät und dann auch nur für Augenblicke auf.



Die Personen dienen der Interaktion zwischen der Frau und dem Mann nur als Staffage; als Beweis dafür, dass sie nicht träumen, sondern tatsächlich an einem realen Ort weilen. In suggestiver Weise treibt der Mann seine Gedanken voran und versucht, die Frau für sich zu vereinnahmen. Er lässt sie an seiner Gefühlswelt teilhaben, was sie halb erschreckt und halb verunsichert. Die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit ist fließend und wird in opulente Bildfolgen gegossen, deren Faszination den Zuschauer wie in einem Sog in die Stimmung - denn der Film ist eine Seelenlandschaft - hineinzieht. Das Unerhörte, Dekadente besteht in der schonungslosen Offenbarung der Gedanken seiner männlichen Leitfigur, die rücksichtslos an Erinnerungen, Verdrängtes und scheinbar Vergangenes appelliert, statt sich in vornehmer und lebloser Zurückhaltung zu üben, wie es der gesellschaftliche Rahmen verlangt. Die Frau bildet den Auslöser, die Projektionsfläche für die Wünsche und Interpretationen des Mannes. Sie ist das Traumbild, das schwebend durch die Kulissen gleitet, dessen Unnahbarkeit durch optische Raffinesse betont wird. Ihr Unterbewusstes drängt nach oben, obwohl sie es verzweifelt zu verbergen sucht. Wie fremdgesteuert kommt sie auf halbem Weg entgegen, um dann wieder zu entgleiten.

Zitat von La belle dame sans merci - John Keats
"Im Zwielicht sah ich ihre verschmachteten Lippen, die sich in grausiger Warnung weit öffneten, und ich erwachte und fand mich hier am kalten Hügelhang. Und darum bleibe ich hier allein und schweife bleich umher, obgleich das Schilf am See niederwelkte und kein Vogel singt."


Delphine Seyrig, die zehn Jahre später "Blut an den Lippen" drehte, zehrt bereits hier von ihrer geheimnisvollen Aura, die vampireske Züge in sich birgt. Wenn sie bei Tageslicht im Park unter dem Monument der beiden Wanderer steht und charmant mit ihrem Partner plaudert, stellt sie eine Frau dar, die dem Leben den Stachel gezogen hat. Senken sich jedoch die Schatten über die Anlage, so zieht auch sie sich in ihren Kokon aus Vorsicht und Wachsamkeit zurück. Wie erstarrt wirken ihre Blicke, ihr Gesicht verhärtet sich und scheint in stummer Beobachtung zu verharren; unfähig, einen Beschluss zu fassen. Giorgio Albertazzi und Sacha Pitoëff bilden den Rahmen für ihre Präsenz. Ihre Versuche, die Dame zu gewinnen, sind konträr. Wortreich oder schweigend, strategisch oder spontan - nichts scheint zum Erfolg zu führen, wie das Fazit unterstreicht, zu dem die "Chronik des Films" kommt: "Ein kompliziertes Geflecht aus wahren und imaginären Erinnerungen und Gedanken wird in Bild und Sprache ausgebreitet, ohne dass der Zuschauer letztlich Klarheit über die tatsächlichen Abläufe gewinnt." Handelt es sich um die Phantasie einer wohlhabenden, gelangweilten Frau, die zwischen Vernunft und Leidenschaft abwägt und sich zur Hauptdarstellerin ihrer intensiven Geisteswelt hochstilisiert? Oder passiert alles nur in den Gedanken eines Mannes, der der Konvention entfliehen will? Alain Resnais gesteht es seinem mündigen Publikum zu, selbst darüber zu entscheiden.

Die elegante, kostbare Studie über den Reiz, Träume Wirklichkeit werden zu lassen, kleidet Gedanken in Worte und Bilder, wobei sich die Schauspieler vollkommen den Vorgaben des Experimentalromanciers und des Regisseurs fügen, um sich als künstlerisches Gesamtwerk zu präsentieren.

(1) "Menschen im Hotel - Filmische Begegnungen in begrenzten Räumen" Cinefest 2015

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