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Dieses Thema hat 7 Antworten
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 Film- und Fernsehklassiker national
Georg Offline




Beiträge: 3.263

19.06.2016 11:31
Durchbruch Lok 234 (1963) Zitat · Antworten

Durchbruch Lok 234
BRD 1963, s/w

Mit Erik Schumann, Maria Körber, Joseph Offenbach, Helmut Oeser, Herbert Fleischmann, Karl-Heinz Kreienbaum, Günter Lüdke u.v.a.

Buch: Gerhard T. Buchholz
Musik: Peter Laurin
Kamera: Bert Meister
Regie: Frank Wisbar

Oranienburg, DDR, Ende 1961. Harry Dölling arbeitet als Lokführer und ist dem sozialistischen System gegenüber sehr kritisch eingestellt. Als sein Sohn durch eine perfide Falle seines Lehrers einen Freund des Vaters denunziert, bricht für ihn eine Welt zusammen. Harry möchte raus aus dem real existierenden Sozialismus. Dazu muss er aber erst Vertrauen zu den DDR-Funktionären aufbauen. Sein Plan ist es, mit einem Personenzug die Grenze zu durchbrechen. Es handelt sich dabei um die Station Albrechtshof, die als einzige noch nach West-Berlin führt. Harrys Plan scheint zu klappen. Tatsächlich gelingt es ihm durch zahlreiche "selbstlose" Überstunden sich vom linientreuen Personalchef für die entsprechende Zugfahrt einteilen zu lassen...

"Durchbruch Lok 234" ist ein sehr spannendes Filmvergnügen, das auf einem wahren Fall beruht. Sowohl die Vorbereitungen auf die Zugfahrt, als auch die Fahrt im Zug selbst, gestalten sich aufregend. Wisbar gelingt es vor allem die letzten 30 Minuten sehr gut, den Zuschauer mit den Helden mitfiebern zu lassen, ob sie trotz all der Hindernisse den Durchbruch schaffen.

Der Spiegel schrieb zu diesem Film: "Als Vorlage diente ihm die Flucht des 28jährigen Lokomotivführers Harry Deterling, der am 5. Dezember 1961 den Personenzug Oranienburg - Albrechtshof fahrplanwidrig über die nahegelegene Grenze nach Westberlin lenkte. Wisbar und sein für dieses Projekt mit einer Bonner Drehbuchprämie ausgerüsteter Autor Gerhard T. Buchholz ("Weg ohne Umkehr") mischten Wahrheit und Dichtung zu einem Unterhaltungsfilm, der dennoch einen Zipfel der deutschen Wirklichkeit sichtbar werden läßt. Zumal das Kleine-Leute-Milieu der Helden wurde sicher ins Bild gesetzt".

Überzeugend in dieser Produktion sind vor allem die vielen sehr gut für die jeweiligen Rollen ausgesuchten Darsteller. Erik Schumann in der Hauptrolle als DDR-Zweifler macht seinen Job wirklich exzellent, neben ihm überzeugten mich vor allem Herbert Fleischmann als Arzt, Joseph Offenbach als alter Lokführer und Georg Lehn als linientreuer Vorgesetzter.

Mein Fazit: Ein sehr spannender, vor allem die letzten 30 Minuten temporeicher Film über eine Republikflucht. Empfehlenswert!

Percy Lister Offline



Beiträge: 3.589

19.06.2016 20:12
#2 RE: Durchbruch Lok 234 (1963) Zitat · Antworten

Die Filmhandlung lässt auf einen formidablen Film schließen und die Besetzung macht ebenfalls Lust auf die spannende Lektion in Sachen Zeitgeschichte. Der echte Fall Harry Deterling wird auch im Buch "August 1961: S-Bahn und Mauerbau" von Udo Dittfurth erwähnt (GVE-Verlag Berlin, 3. Auflage 2013):

Zitat von Harry Deterling: Protokoll einer Flucht mit Lok und Wagen, Seite 109
Ich rechnete mit einem rund 2500 Meter langen Bremsweg. Ich musste auch den Fahrplan kennen, denn es durfte kein Zug entgegenkommen. Ein aus Richtung Hamburg nachfolgender Interzonenzug, der während unseres Wendehalts in Albrechtshof die Strecke passiert, wäre die günstigste Kulisse: Während wir über die Grenze fahren, würden die Grenzposten denken, es sei der folgende Interzonenzug und deshalb nicht schießen. Ab 10. Dezember 1961 sollten die Hamburger Interzonenzüge statt über Albrechtshof über Griebnitzsee verkehren. Nun überstürzten sich die Ereignisse. (...) Nun lagen die letzten drei Kilometer Fahrt vor uns. Ich beschleunigte auf etwa 60 km/h, weil wir in Albrechtshof mit nur 40 km/h einfahren sollten. Diese Geschwindigkeit behielt ich auch für die Ausfahrt bei, um nicht im Abzweig der Weiche zu entgleisen. Zu unserer Sicherheit kletterten wir in den Kohlentender - wir mussten mit Beschuss rechnen. Doch es fiel kein Schuss...

Georg Offline




Beiträge: 3.263

19.06.2016 20:55
#3 RE: Durchbruch Lok 234 (1963) Zitat · Antworten

Danke für die interessante Ergänzung! In jedem Fall ist der Film dann auch ein interessantes Zeitdokument, wenngleich natürlich auch einiges erfunden wurde.

Giacco Offline



Beiträge: 2.519

20.06.2016 12:54
#4 RE: Durchbruch Lok 234 (1963) Zitat · Antworten

Den Kritiker des Film-Echo hat Frank Wisbars "Durchbruch Lok 234" nicht überzeugt:

"Bonn bedachte das Drehbuch, in dem Gerhard T. Buchholz eine wahre Begebenheit nachzeichnet, mit einer Prämie von 200.000 DM. Die finanzielle Weiche schien gestellt. Mühe machte es, einen Verleih zu finden. Pallas übernahm schließlich die Auswertung. Der Film wurde gestartet, und es zeigt sich, dass er beim Publikum nicht das erhoffte Interesse findet.

Frank Wisbar vermeidet zwar Peinlichkeiten, wie sie Robert Siodmak im thematisch ähnlich gelagerten "Tunnel 28" nicht zu umgehen vermochte, aber auch er findet nicht den Weg. Ein blasses Drehbuch, blasse Darsteller (Ausnahme: Joseph Offenbach) und eine blasse Inszenierung führen zu einem farblosen, künstlerisch völlig toten Film. Es ist unverständlich, wieso es beispielsweise nicht gelang, das Milieu kraftvoller, realer, "filmischer" zu zeichnen. Rangierbahnhöfe, Bahnsteige, Lokschuppen, der Zug, die Lokomotive, die Geleise, die Menschen - Abziehbilder. Atelierluft weht.

"Durchbruch Lok 234" sollte nach der Ansicht des Drehbuchautors kein "politischer" Film sein. Im Mittelpunkt, so fixierte Gerhard T. Buchholz das Ziel, sollten ein Mensch und dessen Schicksal stehen. Gut, doch die Gestalt dieses Lokführers, der eines Tages erkennt, dass das Regime seine Familie zerstören wird, könnte in dieser Art allenfalls Held in einer Lesebuchgeschichte sein. Ein allzu braver Film."


Gab es bei der Premiere in Hannover noch anhaltenden Beifall, so dürften die weiteren Kinoeinsätze für Ernüchterung gesorgt haben. Bereits bei den ersten 10 Meldungen, die im Film-Echo veröffentlicht wurden, konnte der Film als "Best"-Note einmal eine "4" (Zufrieden), aber gleich dreimal die schlechteste Bewertung, eine "7" verzeichnen. Mit der Endnote "5,7" (24 Meldungen) wurde daraus ein Platz auf den hinteren Rängen der Erfolgsliste.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

20.06.2016 20:27
#5 RE: Durchbruch Lok 234 (1963) Zitat · Antworten

Zu dieser Produktion möchte ich die Ausführungen und Fotos von Eisenbahn-im-Film.de verlinken. Geesthacht bei Hamburg hielt bei den Dreharbeiten für Oranienburg bei Berlin her.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

14.08.2016 14:30
#6 RE: Durchbruch Lok 234 (1963) Zitat · Antworten



Durchbruch Lok 234

Drama, BRD 1963. Regie: Frank Wysbar. Drehbuch: Gerhard T. Buchholz. Mit: Erik Schumann (Harry Dölling), Maria Körber (Ilse Dölling), Helmut Oeser (Max Schober), Heidrun Kussin (Alice), Joseph Offenbach (Krause), Georg Lehn (Vogel), Rainer Eggers (Arno Dölling), Hans Paetsch (Professor Pollnow), Anna Marie Böhme (Frau Pollnow), Angelika Thieme (Rosel Pollnow) u.a. Uraufführung: 20. November 1963. Eine Produktion der Profil-Filmgesellschaft Berlin für den Pallas-Filmverleih München.

Zitat von Durchbruch Lok 234
Die Döllings halten zwar nicht viel vom zwangsverordneten Sozialismus, haben sich ihr Leben in der DDR aber zufriedenstellend eingerichtet. Zumindest bis zu jenem Tag, an dem Vater Harry erkennt, dass er seinen behüteten Sohn Arno nach und nach an das verachtete System verliert. Zunächst ist er verzweifelt, dann aber beschließt er, zu handeln: Sein Beruf als Lokführer wird ihm helfen, mit seiner ganzen Familie nach Westberlin zu türmen. Mit einem Zug, der fahrplanmäßig in Adlershof enden soll, wollen die Döllings die hermetisch abgeriegelte Grenze durchbrechen ...


Basierend auf einem der spektakulärsten Fluchtereignisse kurz nach dem Mauerbau, der sich gestern zum 55. Mal jährte, spannt „Durchbruch Lok 234“ eine hochspannende Brücke zwischen Realität und Fiktion. Keine zwei Jahre nachdem Harry Deterling, der im Film Harry Dölling heißt, mit Familie und Freunden auf dem Grenzzug Oranienburg – Adlershof den Linienendpunkt durchfuhr und entlang des Interzonenzuggleises nach Berlin-Spandau durchbrach, feierte Frank Wysbars filmische Aufarbeitung bereits Uraufführung. Dieses Signal – ein unmissverständliches Statement gegen die Einmauerung ostdeutscher Bürger, die von der braunen Diktatur geradewegs in die rote hineinrutschten – zeigt ebenso wie die Filmförderprämie vom Bundesministerium des Inneren die Wichtigkeit und Brisanz des Tagesgeschehens an der Grenze für die bundesdeutsche bzw. westberlinische Filmindustrie.



Statt eines antisozialistischen Lehrstücks bekommt der Zuschauer einen packenden, temporeichen und mit feinem Gespür für Charaktere in Zwangslagen gezeichneten Film zu sehen, der den Fluchtplan und dessen Durchführung im Stil eines heist movie umsetzt und sich dabei nicht einmal vor der typischen Falle dieses Genres, dass der Zuschauer Sympathien für die Gesetzesbrecher aufbringt, fürchten muss. Tatsächlich sorgt die Besetzung der Flüchtenden für noch größere Identifikation mit ihnen und ihrem Coup, treffen Wysbar und Produzent Tietz mit ihrem „Cast 2.0“ doch fast ausnahmslos ins Schwarze. Erik Schumann – sonst ein Darsteller, der eher in die zweite Rolle als in die Position eines leading man passt – kann die Verzweiflung seines realen Vorbilds glaubhafter umsetzen als andere Hauptdarsteller mit heroischerer Reputation. Die schleichende Infiltration, der seine Kinder ausgesetzt sind, ist nicht nur eine starke Motivation für seinen finalen Entschluss zur Flucht, sondern verdeutlicht auch die totalitäre Natur des D„DR“-Regimes. Ihm stehen mit Ehefrau Maria Körber und Mutter Eva Fiebig zwei Frauen unterschiedlicher Willensstärke und mit Helmut Oeser ein Freund zum Pferdestehlen bei. In der ursprünglich geplanten Besetzung hätte vielleicht Dietrich Kerky anstelle Schumanns überzeugen können, ob die Angst vor der eigenen Courage in Barbara Rüttings entschlossenen Augen ebenso wirksam emporgekrochen wäre wie in Maria Körbers, darf bezweifelt werden.

Wenn der Filmdienst zu „Durchbruch Lok 234“ notiert, dass das Drehbuch „vor allem in der Zeichnung der Randfiguren versagt“, so kann dies in der Rückschau nur als schweres Fehlurteil gewertet werden. Nicht einmal die Darstellung der linientreuen DDR-Beamten gerät stereotyp, wie die unterschiedliche Strenge ihrer Dienstauffassungen und der Wandel in der Rolle von Joseph Offenbach, der vom heimtückischen Grätscher zum verschmitzten Unterstützer des Plans wird, beweisen. Den großen Clou und emotionalen Höhepunkt landet die Produktion allerdings mit dem Schicksal der Pollnows, die den Zug knapp verpasst haben und nach seiner Abfahrt in Oranienburg über die Zwischenhalte in Lehnitz, Birkenwerder und Finkenkrug versuchen, ihr Ticket in die Freiheit doch noch einzulösen. Der geschätzte Hans Paetsch gibt mit seiner stillen, aber doch so ergreifenden Verkörperung eines Forschers eine der besten Leistungen seiner zumeist auf mehr oder weniger lapidare Nebenrollen beschränkten Laufbahn.

„Durchbruch Lok 234“ beweist, dass ein politischer Film lückenlose Spannung und sympathische Charaktere ohne Zeigefinger-Moral bieten kann. Frank Wysbar gelang die Nacherzählung der „Republikflucht“ so hervorragend, dass ich „Durchbruch Lok 234“ zu den zehn besten deutschen Filmen der 1960er Jahre zählen möchte, die mir bisher bekannt sind. Eine offizielle DVD-Veröffentlichung, die diesem zeithistorisch wichtigen Stoff die verdiente Aufmerksamkeit zukommen lassen könnte, ist längst überfällig! 5 von 5 Punkten.

PS: Eine halbstündige Dokumentation über die Flucht von Harry Deterling und seiner Familie wurde auch im Rahmen der TV-Sendung „Eisenbahn-Romantik“ gesendet. Die Folge (#436, „Endstation Freiheit“) hat zwar schon ein paar Jahre auf dem Buckel – Erstsendung kurz vor dem 40. Jahrestag des Ereignisses am 2. Dezember 2001 –, ist aber noch im Archiv auf der Website des Südwestdeutschen Rundfunks abrufbar.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

15.08.2016 20:55
#7 RE: Durchbruch Lok 234 (1963) Zitat · Antworten

Eine gute zeitgenössische Kritik, die nicht vom Dünkel der professionellen Filmkritiker beeinflusst (wenngleich, wie ihr lesen werdet, auch nicht frei von eigennutzigen Absichten) ist, wurde in "Aufwärts", der Jugendzeitschrift des Deutschen Gewerkschaftsbundes, abgedruckt. In der Ausgabe vom 15. November 1963 heißt es:

Zitat von Hadobu. Durchbruch Lok 234. Aufwärts 11 (16), 1963. S. 22
Dieser Zeitfilm, von Frank Wisbar nach einer wahren Begebenheit gedreht, wächst nach mattem Anfang in eine atemberaubende Spannung. Ein Zug rast über die Zonengrenze in westdeutsches Gebiet. Der Lokführer und seine Heizer und viele der Fahrgäste haben nur das Ziel, aus der Zone zu flüchten. Die Motive ihrer Flucht sind verschieden. Ein Kind des Lokführers hat in seiner Naivität verraten, dass der Nachbar der Familie westdeutsche Sender abhört. "Ihr habt mir noch immer gesagt, dass ich die Wahrheit sagen soll", sagt das Kind, vom Vater zur Rede gestellt. Lange Gespräche zwischen Vater und Mutter, Beratungen mit gleichgesinnten Kollegen. Dann der Entschluss zur Flucht. "Meine Kinder soll dieser Staat nicht zu Spitzeln erziehen können", sagt der Vater. Und so bringt er den Zug über die Grenze.

Natürlich ist das keine glatte Fahrt, aber Wisbar hat geschickt die auftretenden Schwierigkeiten und die stillen Helfer eingebaut, die zum Gelingen der Flucht beitragen. Besonders gelungen ist die fast stumme Rolle des Eisenbahnbeamten, der durch Verzögerung eines Telefongesprächs verhindert, dass der Zug auf der letzten Station angehalten werden kann.

Nur leise angedeutet sind die Fluchtmotive der Fahrgäste: Junge Menschen, die in Westdeutschland ein besseres Leben suchen; ein Wissenschaftler, der seine Werke veröffentlichen will; Menschen, die zu ihrer Familie wollen; Arbeiter, die endlich in einer wirklich freien Gewerkschaftsbewegung arbeiten wollen. Sie sind glaubhaft geschildert.

Gelungen ist auch die Figur des Arztes, der in der Zone bleibt, weil er seine kranken Patienten nicht verlassen will.

Zweifellos wissen wir zu wenig von den Menschen in der Zone, aber der Film gibt uns einen kleinen Einblick in Tragik, Duldertum, Freiheitsehnen von 17 Millionen Menschen, die nunmehr 30 Jahre unter Diktaturen leben.


Hier ist der Artikel als Bilddatei hinterlegt.

Percy Lister Offline



Beiträge: 3.589

04.09.2016 15:17
#8 RE: Durchbruch Lok 234 (1963) Zitat · Antworten



BEWERTET: "Durchbruch Lok 234" (Deutschland 1963)
mit: Erik Schumann, Maria Körber, Helmut Oeser, Joseph Offenbach, Hans Paetsch, Katharina Mayberg, Heidrun Kussin, Herbert Fleischmann, Anna Maria Böhme, Georg Lehn, Karl Heinz Gerdesmann, Eva Fiebig, Peter Lehmbrock, Rainer Eggers, Angelika Thieme u.a. | Drehbuch: Gerhard T. Buchholz | Regie: Frank Wisbar

Harry Dölling lebt mit seiner Frau und den drei Söhnen in Oranienburg. Als er eines Tages von seiner Arbeit als Lokführer nach Hause kommt, berichtet ihm sein Sohn Arno stolz von einer Belobigung, die er für vorbildliches Staatsbürgerverhalten bekommen hat: er hatte die Eltern seines Schulfreundes denunziert, weil sie Westfernsehen eingeschaltet hatten. Entsetzt erkennt Harry, dass das System der DDR drauf und dran ist, auch seine Familie zu korrumpieren. Er fasst den Entschluss, dem Osten den Rücken zu kehren und nach West-Berlin zu fliehen. Er beantragt seine Einteilung für eine Sonderschicht, die an den Grenzbahnhof Albrechtshof führt. Doch diesmal soll der Zug nicht dort halten....

Die spannendsten Geschichten schreibt das Leben selbst. Der Lokführer Harry Deterling war am 5. Dezember 1961 mit einem Personenzug mit 32 Passagieren (von denen 25 in die Flucht eingeweiht waren) nach West-Berlin geflohen. Erik Schumann verkörpert ihn zwei Jahre später auf der Leinwand. Er zeigt, dass die Restriktionen des Lebens im sozialistischen System auch an ihm bereits zu nagen beginnen. Er ist unbeherrscht geworden, verliert schnell die Geduld und fürchtet den Zerfall seines Familienzusammenhalts. Die tägliche aktive und passive Begegnung mit den Vorgaben des Regimes, das bereits die Kleinsten erfasst und sich in alle Bereiche des Lebens einschleicht, lässt ihn eine extreme Denkweise annehmen, die selbst den letzten Schritt nicht ausschließt, um sich nicht beugen zu müssen. Fast scheint es schon, als manövriere er sich durch seine Introversion selbst ins Abseits, als er sich zu einem mutigen Plan entschließt, der auch seine Freunde und Verwandten umfasst und ihm neue Zuversicht gibt.

Zitat von Udo Dittfurt: August 1961 - S-Bahn und Mauerbau, GVE Verlag
Der Raum um Staaken, um Albrechtshof und um Falkensee war in den 30er und 40er Jahren zunehmend besiedelt worden. Wohnungsbau und (Rüstungs-)Industrie führten zu dem Wunsch, die elektrische S-Bahn über Spandau West hinaus zu verlängern. Daraus wurde zunächst nur ein Dampf-Vorortverkehr. Erst 1951 fuhren die elektrischen Züge, teilweise auf demselben Gleis wie die Fernzüge von und nach Hamburg. Albrechtshof wurde zum Kontrollbahnhof, kurz hinter der neuen West-Berliner Stadtgrenze. Der 13. August 1961 brachte das Aus für die S-Bahn. Wenige Wochen noch pendelte zwischen Albrechtshof und Falkensee ein elektrischer S-Bahnzug. Dann musste der Verkehr wegen fehlender Wartungsmöglichkeiten eingestellt werden.


Die Wahl der Schauspieler betont den Realismus der Produktion, die sich auf die spannende Geschichte konzentriert und jeden Darsteller zum wichtigen Rädchen im Getriebe werden lässt. Eine Hand ergreift die nächste, eine Handlung zieht eine andere nach sich und präsentiert die menschlichen Schicksale als stellvertretende Porträts einer ganzen Gesellschaft. Der disziplinierte Linientreue, der in Georg Lehn einen im Inneren ängstlichen, aber durch seine Obrigkeitshörigkeit gefährlichen Mann findet; der listige Heizer, der mit dem bauernschlauen Joseph Offenbach einen Verbündeten gegen das Duckmäusertum aufbietet; der beredte Arzt, dem Herbert Fleischmann Widerstandskraft verleiht und der stille Gelehrte, dem Hans Paetsch seine unaufdringliche Präsenz zuteilhaben lässt und der eine der tragischsten Figuren der Handlung ist. Maria Körber als Ehefrau und Mutter gewinnt erst nach und nach den Mut zur offenen Rede, Eva Fiebig als unerschrockene Großmutter ist hier weitaus deutlicher. Helmut Oeser ist der Freund zum Pferdestehlen, der keinen Augenblick überlegt, als er gebraucht wird.

Nachdem sich der Film in der ersten Hälfte mit dem Alltagsleben seiner Personen befasst und in düsteren Bildern eine Ausweglosigkeit zeigt, die zunächst verdrängt, betäubt und dann schließlich als untragbar für die Zukunft befunden wird, wächst die Dynamik mit dem Fluchtplan kontinuierlich an. Die Teilnahme an der Fahrt in den Westen wird für den Zuschauer zum Erlebnis, bei dem Zeit, Zufall und Geschick alles entscheiden können. Alles hängt davon ab, ob sich die Figuren bewähren und den eingeschlagenen Weg beibehalten. Andererseits wird flexibles Handeln in Notsituationen vorausgesetzt, was Nerven und Geduld abverlangt. Die temporeiche Fahrt, die durch die Drehbuchdramatik noch mitreißender wird (in Wahrheit wurde der Zug nicht beschossen), packt das Publikum an der Wurzel des Mitgefühls und lässt es mitfiebern, als ginge es darum, sich selbst der Verfolgung zu entziehen. Die Choreografie der letzten Viertelstunde ist ein Meisterwerk aus Panorama- und Nahaufnahmen, Beleuchtung und Tonuntermalung und zehrt vom Zusammenspiel von Mensch und Technik.

Ein Geheimtipp für alle Freunde der Eisenbahn und jene, die sich für die jüngere deutsche Geschichte interessieren. Eindringliche Schauspielerleistungen, authentisches Flair und eine Spannung wie im Krimi machen diese relativ unbekannte Produktion zu einem nachhaltigen Erlebnis. 5 von 5 Punkten

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