Nachdem ich wusste, was mich erwartet, bin ich im zweiten Anlauf etwas gelassener ans „Rattennest“ herangegangen. Die Folge konnte mich zwar auch diesmal nicht vollständig überzeugen, aber der Untergang des frühen „Tatort“-Abendlandes ist sie deshalb nun auch nicht gerade ...

Tatort: Rattennest Hauptkommissar Kasulke ermittelt in Berlin
Episode 22 der TV-Kriminalserie, BRD 1972. Regie: Günter Gräwert. Drehbuch: Johannes Hendrich. Mit: Paul Esser (Hauptkommissar Kasulke), Gerhard Dressel (Kriminalassistent Roland). In Gastrollen: Jan Groth, Carla Hagen, Angelo Kanseas, Götz George, Ingrid van Bergen, Herbert Fux, Ulli Kinalzik, Kurd Pieritz, Günter Hoffmann, Willy Semmelrogge u.a. Erstsendung: 8. Oktober 1972, ARD. Eine Produktion des Senders Freies Berlin.
Zitat von Tatort (22): Rattennest „Laschke is aus’m Knast!“ schallt es über den Hinterhof einer Berliner Mietskaserne. Und weil Laschke weiß, dass das auch seine früheren Kumpanen um den Zuhälter Jerry mitbekommen werden, die er vor Verbüßung der Haftstrafe verpfiff, flüchtet er, so schnell er kann, mit Frau und Kind. Die DDR lehnt Laschkes Einreiseantrag ab, sodass West-Berlin für ihn zu einer höchst gefährlichen Insel wird. Während Jerry, Frankenstein und Stocker die Unterwelt durchkämmen, plant Laschke einen verheerenden Gegenschlag, um ein für alle Mal die Oberhand über seine Häscher zu gewinnen ...
Hauptkommissar Kasulkes erster Fall zeichnete sich bereits durch seine ungewöhnliche Machart aus. Erneut auf einem Drehbuch von Johannes Hendrich basierend, will „Rattennest“ offenbar noch einen Schritt weitergehen und mit den alten Konventionen von (TV-)Krimis gänzlich aufräumen. Dieser „Tatort“ erzählt keinen Mordfall, sondern wirkt wie eine Übersetzung einer alten Chicagoer Gangsterklamotte ins Berlinerische, wobei sie bemüht ist, die weltanschauliche Naivität, die ihr zugrunde liegt, hinter so viel Coolness wie möglich zu verstecken. Dies macht sich vor allem bei den kuriosen Figuren aus Jerrys Bande bemerkbar: Proletentype Kinalzik, der Wiener „Untote“ Fux und Verbrecherliebchen van Bergen sind so einschlägige Galgenvögel, dass sie hier ihre üblichen Klischees bedenkenlos auf die Spitze treiben können, ohne dabei lächerlich zu wirken. Doch letztlich bleibt zumindest ein Schläger mit Schmäh am Kurfürstendamm deplatziert – ob es dieser Besetzung wirklich bedurft hätte, ist fraglich.
Götz George gerät als zuerst den dicken Maxe markierender Gangleader im Laufe der knapp 90 Minuten immer weiter ins Visier von Laschke, bis zuletzt nur noch ein Häufchen Elend übrigbleibt. Diese Wandlung bringt George eng an die Grenzen seines schauspielerischen Vermögens und teilweise darüber hinaus in den Bereich wilden Chargierens, das sich vor allem im ersten der beiden großen Showdowns auf der Mülldeponie bemerkbar macht und überdies mit unappetitlichen Details ausgestattet wird. Demgegenüber tritt Jan Groth mit einer stimmigeren Mischung aus Zurückhaltung und kalter Entschlossenheit auf, die ihn trotz seiner Antihelden-Rollenanlage zu einem guten, identitätsstiftenden Hauptdarsteller macht. Auch Carla Hagen als seine Frau und Kinderdarsteller Angelo Kanseas stellen sich als Zugewinn für die Folge hinaus, weil sie ihr neben plumpen Räuberpistolen auch eine menschliche, tragische Seite verleihen. Es ist bezeichnend, dass das dritte Viertel der Folge, als Hagen und Kanseas weitgehend von der Bildfläche verschwunden sind, das langatmigste und zäheste von „Rattennest“ ist.
Wo sowohl für Gaunermilieu als auch für Familienschicksal viel Spielzeit freigemacht wird, bleibt wiederum eins auf der Strecke: Die polizeiliche Ermittlung. So ist Kasulke auch in seinem zweiten und letzten Fall nur ein besserer Statist und kann den schlimmen Ausgang schon wieder nicht verhindern. In dieser Zeichnung der Polizistenfigur – nett, gemütlich, routiniert, aber letztlich ein Verwalter nicht zu korrigierender gesellschaftlicher Schieflagen – schwingt ein bitter-ernüchterter Zeitgeist-Realismus der frühen Siebzigerjahre mit, der für Freunde derartig ausgestalteter Stoffe über großen Reiz verfügen dürfte. Wer sich hingegen einen einigermaßen ausgewogen konstruierten, womöglich noch klugen Krimi wünscht, sollte von „Tatort“ #022 eher die Finger lassen.
Knorrig-abartige Typen aus der filmischen Unterwelt der frühen Siebziger geben sich im „Rattennest“ ein durchwachsenes Stelldichein. Jan Groth als verfolgter Racheengel mischt den aufgetakelten Götz George zünftig auf, ohne dass die Motivation für sein Vorgehen vollumfänglich klar wird. Nach einer enttäuschenden Erstsichtung erhöhe ich bei der zweiten Begegnung auf 2,5 von 5 Punkten.
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