BEWERTET: "Wodka Bitter Lemon" (aus der Reihe: "Tatort") (Erstausstrahlung am 13. April 1975) mit: Hansjörg Felmy, Claudia Amm, Heinz Bennent, Margot Trooger, Lil Dagover, Sabine von Maydell, Willy Semmelrogge, Karin Eickelbaum, Sky Dumont, Katharina Seyferth, Klaus Grünberg, Gustl Bayrhammer u.a. | Drehbuch: Henry Kolarz | Regie: Franz Peter Wirth
Auf dem Nachhauseweg nimmt der Fabrikant Martin Koenen eine Anhalterin mit. Wie sich herausstellt, handelt es sich um das 16-jährige Lehrmädchen Irene Lersch, die in seinem Werk beschäftigt ist. Um einen klaren Gedanken fassen zu können, bietet ihr Herr Koenen einen Drink an und verlässt das Zimmer. Als er es nach zehn Minuten wieder betritt, liegt Irene tot vor dem Kamin. In Panik bringt der Mann die Leiche in einen Park, wo sie tags darauf gefunden wird. Das Obduktionsergebnis lautet: Vergiftung durch Zyankali. Da Irene heimlich eine Jadefigur vom Kaminsims entwendet hatte, kommt Kommissar Haferkamp mithilfe einer Zeugin bald auf die Spur des Fabrikanten. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht Koenen selbst das Ziel des Mordanschlags sein sollte und wer von seinem Tod profitieren würde ...

Unterschiedliche Lebenswelten treffen in der prominent besetzten Geschichte aufeinander. Die ungezwungene Sorglosigkeit einer Sabine von Maydell, die sich im Arbeitszimmer ihres Vorgesetzten durch Musik, Tanz und Alkohol einen persönlichen Freiraum schafft; die den äußeren Schein wahrende Claudia Amm, die als Ehefrau des Firmendirektors familienpolitisch machtlos ist, aber gesellschaftlich in die Pflicht genommen wird; die souveräne Margot Trooger, die eigentliche Dame des Hauses, deren Ehrgeiz, das Familienunternehmen zu leiten, den Biss zeigt, den ihr Bruder manchmal vermissen lässt und zuletzt Lil Dagover, die wie keine Andere dafür prädestiniert ist, Manieren und Anschauungen einer vergangenen Zeit zu repräsentieren, spannt sich der Bogen ihrer Karriere doch vom exemplarischen Stummfilm "Das Kabinett des Dr. Caligari" bis hin zur Dürrenmatt-Charakterrolle in "Der Richter und sein Henker". Das vielgelobte "Seidenlächeln" blitzt im "Tatort" selten auf und wenn sie die Polizei auf die wertvollen Möbelstücke hinweist, wirkt sie ebenso entrückt wie als Gräfin Moron in der Edgar-Wallace-Verfilmung von 1961.
Hansjörg Felmy ermittelt als Haferkamp "unauffälliger, sachlich und gänzlich ohne Playboy-Allüren. [...] Seine wichtigste Bezugsperson war Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum). Die lebenskluge Fotografin beriet ihn, wenn er zweifelte, sorgte für sein Seelenheil, wenn er verzweifelte. Diese Komponente machte den ernsten Haferkamp menschlich und erzeugte eine Anmutung von privatem Hintergrund, zu dem auch die Liebe zu seinen alten Shellack-Jazzplatten gehörte." (Der deutsche Fernsehkrimi, Verlag J.B. Metzler, Seite 190) Haferkamps ruhige, angenehme Art kommt ihm in den Verhören zugute, die er gern an neutralen Orten führt und damit eine entspannte Gesprächsatmosphäre schafft. Seine Ermittlungsergebnisse fußen auf abwägenden Überlegungen; im Fall von Petra Koenen glaubt man gar eine gewisse Sympathie entdecken zu können. Ebenso zeigt er auch Ablehnung - hier, wenn es um die Künstlerclique auf dem mondänen Sylt geht, die von Sky Dumont routiniert angeführt wird.
Heinz Bennent spielt mit dem ihm eigenen Unverständnis für seine Umwelt; stets fühlt er sich betrogen, belogen oder in seinen Absichten behindert. Sein ratloses Gesicht kommt ihm in der Rolle des Außenseiters, der er meist ist, zugute. Die Frauen meiden ihn, die Männer verachten ihn. So gelingt es ihm, seinen Figuren die Tiefe zu verleihen, die Abgründe hinter der Fassade sichtbar macht.
Das Modell "Tatort" liegt in meiner Gunst insgesamt hinter den Einstunden-Episoden der ZDF-Konkurrenz zurück. Die lange Laufzeit sorgt für einen Durchhänger im Mittelteil und fördert das Nachlassen des Interesses. Von der starken Ausgangssituation entfernt sich die Folge nicht nur geografisch (wobei die Sylt-Aufnahmen aus der Vogelperspektive nicht nur Haferkamp eine willkommene Frischluftzufuhr bieten), sondern auch personell. Die Wahl der Schauplätze kann allgemein als sehr gelungen bezeichnet werden, wobei das Familienanwesen, das Schloss als Treffpunkt der Reiter und der Bahnhof Westerland / Sylt besonders eindrucksvoll sind. Die gehobene Atmosphäre des klassischen Familiendramas hätte nur einiger Kürzungen bedurft, um ihr zu einer wirklich ausgezeichneten Folge zu verhelfen.
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