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Dieses Thema hat 1 Antworten
und wurde 183 mal aufgerufen
 Film- und Fernsehklassiker national
Percy Lister Offline



Beiträge: 3.589

01.11.2015 14:19
#1 Irgendwo in Berlin (1946) Zitat · Antworten

BEWERTET: "Irgendwo in Berlin" (Sowjetische Besatzungszone [spätere DDR] 1946)
mit: Charles Knetschke (= Charles Brauer), Fritz Rasp, Walter Bluhm, Hans Trinkaus, Siegfried Utecht, Hans Leibelt, Harry Hindemith, Hedda Sarnow, Paul Bildt, Lilli Schönborn u.a. | Drehbuch und Regie: Gerhard Lamprecht

Gustav spielt jeden Tag mit seinen Freunden in den Trümmern seiner Heimatstadt Berlin. Die Jungs haben bei einem Schwarzmarkthändler Lebensmittel gegen Feuerwerksraketen eingetauscht und simulieren damit Kriegsszenen. Als Gustavs Vater aus der Gefangenschaft heimkehrt, überlegen sich die Freunde, wie sie ihm helfen können. Doch sie haben nicht mit der Gier eines Diebes gerechnet, der sich das Vertrauen von Gustav erschlichen hat....



Der Berliner Regisseur Gerhard Lamprecht beginnt seinen Film mit einer Hommage an seinen 1931 gedrehten Erfolg "Emil und die Detektive". Fritz Rasp - ein Dieb wie eh und je - wird von einer Menschenhorde verfolgt, um ihm das gestohlene Geld wieder abzujagen. Listig und mit gewinnenden Tricks gelingt es Rasp, das Publikum und seinen jungen Freund zu täuschen. Seine finstere Verschlagenheit, die sich aus dem Abwarten der passenden Gelegenheit nährt, lässt ihn leicht durch die Übergangsjahre kommen, an deren Ende er wohl zum Berufsverbrecher oder Knastbruder avanciert ist. Charles Knetschke, der uns besser unter dem Namen Charles Brauer bekannt ist, spielt den Sympathieträger des Films. Gustav ist ein mitfühlender Junge, der sich um seine Familie und seinen Freund Willi sorgt und alles tut, um ihnen zu helfen. Die Rückkehr des geschwächten Vaters stellt ihn vor neue Herausforderungen, die ein breites Spektrum an Reaktionen auslöst. Neben wohlmeinenden Menschen begegnet er auch den Profiteuren der Not, die sich an der Situation bereichern und ihren Vorteil daraus ziehen. Stellt Fritz Rasp die dunkle Seite der Medaille dar, so steht Walter Bluhm im Licht. Er weist Gustavs Vater (und die Kinobesucher) darauf hin, dass es keinen Sinn hat, über Verluste zu klagen. Jeder müsse sich eine Aufgabe suchen, die ihn ausfüllt und Trauer und Bitterkeit in nützliche Arbeit umwandelt. Er ist das Gewissen des Films und animiert Gustav und dessen Vater zu einem Neubeginn.
Wie schon in "Die Mörder sind unter uns" ist der Schauplatz Berlin von den Folgen des Krieges gezeichnet:

Zitat von GEO Epoche Panorama Heft Nr. 3 Trümmerzeit und Wiederaufbau, S. 15 Verlag Gruner + Jahr Hamburg
"Im Staub der Großstädte: Etwa 400 Millionen Kubikmeter Schutt bedecken die Straßen und Grundstücke der deutschen Städte - zehn Millionen Güterwaggons ließen sich damit füllen. Das Verkehrsnetz ist schwer beschädigt, Verbindung über größere Entfernung aufzunehmen ist fast unmöglich. (...) Geräumte Straßen und staubige Trampelpfade führen durch die Trümmerfelder. Wer sich auf den Weg macht oder in den Ruinen Brauchbares sucht, begibt sich in Gefahr: Immer wieder stürzen Mauerteile ein, detonieren Blindgänger."


Die Führung seiner kleinen Darsteller zeigt Lamprechts Talent im Umgang mit Kinderschauspielern. Obwohl alle Jungs (es sind - bis auf ein Mädchen - nur Knaben) aus dem gleichen Umfeld kommen, gibt es welche, die sich aufspielen (der Kapitän), stille Denker mit Brille (der Professor) oder diejenigen, welche mutig sind, weil sie ohnehin schon alles verloren haben wie der elternlose Willi. Die Konflikte, die sich zwischen der agilen Jugend (die künftigen "Halbstarken") und den teils resignierten oder noch in nationalsozialistischem Gedankengut verhafteten Alten entwickeln, entzünden sich an Dingen, die die Erwachsenenwelt den Kindern vorlebt, bei diesen jedoch ablehnt: Lügen, Betrug, Bereicherung auf Kosten anderer etc. Kameramann Werner Krien fängt taghelle Trümmerszenen ebenso ansprechend ein wie die künstlerisch ausgeleuchtete Szene am Ende des Films, als die Freunde an Willis Bett stehen.

Zitat von Chronik des Films, Seite 205 Bechtermünz Verlag 1996
"Der düstere Film mit optimistischen Anklängen findet keinen großen Anklang in deutschen Kinos. Die Zuschauer wollen ihren Alltag vergessen. Das Kino ist in jenen Jahren ein Mittel zur Ablenkung und Zerstreuung. Seit den 50er Jahren gilt Lamprechts Film aber als historisches Dokument, das auch im europäischen Ausland auf großes Interesse stößt."

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

01.11.2015 20:20
#2 Irgendwo in Berlin (1946) Zitat · Antworten



Gerhard Lamprechts Irgendwo in Berlin

Drama, D-Ost 1946. Regie und Drehbuch: Gerhard Lamprecht. Mit: Hedda Sarnow (Frau Iller), Harry Hindemith (Herr Iller), Charles Brauer (Gustav, beider Sohn), Hans Trinkaus (Willi), Hans Leibelt (Eckmann), Paul Bildt (Birke), Fritz Rasp (Waldemar), Walter Bluhm (Onkel Kalle) Lotte Loebinger (Frau Steidel), Siegfried Utecht („der Kapitän“) u.a. Uraufführung: 18. Dezember 1946. Eine Produktion der DEFA Deutsche Film-AG.

Zitat von Irgendwo in Berlin
Frau Iller wartet in Berlin auf die Heimkehr ihres Mannes aus Kriegsgefangenschaft. Auch der Sohn Gustav kann die Rückkehr seines Vaters, der die im Krieg zerstörten Garagen wieder aufbauen soll, kaum erwarten. Solange bringt er verschiedene zwielichtige Gestalten mit nach Hause – unter ihnen auch den Dieb Waldemar. Die Illers ahnen nicht, dass der Kriminelle in ihrer Wohnung 900 Mark versteckt, während sie jede Kartoffel und Zwiebel abzählen müssen. Selbst Herr Iller verfällt, als er zurückkommt, über die ärmlichen Zustände in Trübsal. Doch Gustavs Freund Willi weiß Hilfe ...


1946 präsentiert sich Berlin als von Kämpfen, Bomben, Angriffen und Selbstzerstörung empfindlich getroffene Stadt, deren Trümmerlandschaft in der Retrospektive zwar eine gewisse Romantik aufkommen lässt, für ihre Bewohner aber eine Last und große Aufgabe zugleich ist. „Irgendwo in Berlin“ wurde im Sommer des ersten vollen Nachkriegsjahres gedreht und zeigt Ziegel- und Schuttberge im gleißenden Sonnenschein vor allem aus Kindersicht als Abenteuerspielplatz mit Verstecken, Fluchtwegen und Kletterwänden. Alte, halbzerfallene Luftschutzbunker und Wohnungen, deren Schlafzimmertüren ins Nichts führen, weil der dahinterliegende Raum weggebombt worden ist, erlauben den Dreikäsehochs eine Ablenkung von den Schwierigkeiten des Alltags, die viele Erwachsene aus Resignation oder schlicht aus Hunger zu Betrügern und Dieben werden lassen.

Zitat von Jeffry M. Diefendorf: In the Wake of War – The Reconstruction of German Cities After World War II. Oxford: UP, 1993, S. 22
In Berlin up to 30% of the construction workers on private and city projects claimed to be ill and failed to report for work, but few did so on military projects, which boasted high productivity rates. Food shortages – the food ration in the American zone dropped to 1,180 calories per person daily in May 1946, a prime time of year for construction – meant ill-nourished private and city workers, who naturally achieved less. The authorities tried a number of strategies to augment the supply of construction workers. Some help came from building workers who were refugees from the eastern lands. [...] In the fall of 1945, Berlin’s Technical University stipulated that matriculated students devote hours to clearing rubble from the university grounds.




Ebenso wie der Film ein differenziertes Bild der Elterngeneration entwirft, so lenkt er die Aufmerksamkeit gleichfalls auf die heterogene Gruppe der Halbwüchsigen: Gustav als „Held“ der Geschichte, der trotzdem immer irgendwie abseits steht und Handlungen bei anderen provoziert, anstatt selbst aktiv zu werden; Willi, der für schlechten Umgang gehalten wird, in Wahrheit aber ein guter Freund ist; und der rotzfreche „Kapitän“, über den nebenher mitgeteilt wird, dass das alte Verbrechertum weiterleben wird – auch nach einem nationalen Neuanfang.

Beiden Personengruppen ist gemein, dass sie ihre eigene Kurzsichtigkeit überwinden müssen, um Herausforderungen bewältigen zu können. Nur auf den schnellen Genuss oder die rasche Besserung der Situation gerichtete Handlungen führen zu Konflikten, die der Film genüsslich und hochdramatisch auskostet. Von der jahrelang ersehnten Wiedersehensfreude bis zur Totenwache stilisiert „Irgendwo in Berlin“ bürgerliche Momentaufnahmen, wie sie in der Realität fraglos nicht selten vorgekommen sein mögen, in epischem Genuss, der von der sehr ansehnlichen Kameraarbeit sowie der getragenen Musik noch unterstrichen wird. Man merkt in Momenten, in denen die Bedeutsamkeit der Gemeinschaft betont wird, sehr deutlich, dass man hier einen dezidiert politischen Film sieht, dessen Schlussszene die Zeilen der späteren DDR-Hymne „Auferstanden aus Ruinen“ förmlich vorwegnimmt.

Auf der Seite uneingeschränkter Sympathieträger bewegen sich Hedda Sarnow als Gustavs Mutter, Walter Bluhm als ihr Bruder, Hans Leibelt als etwas realitätsfremder Maler und Lotte Loebinger als Mutter eines Kriegsheimkehrers, bei dem die Kämpfe nicht nur irreparable körperliche, sondern auch seelische Schäden hervorgerufen haben. Neben Fritz Rasp gibt dagegen auch Paul Bildt das überzeugende Porträt eines Mannes ab, der Nutzen aus der Not der anderen schlägt und dieses Vorgehen als sein ureigenes Recht betrachtet, das ihm niemand streitig machen darf. Als Egoisten haben beide keinen Platz in einer gebeutelten Nachkriegsgesellschaft, die, um sich die Ehren des sozialistischen Fortschritts zu verdienen, nicht nur Trümmer, sondern auch Profiteure aus dem Weg räumen muss.

Das mit Herzschmerz und Lebensfreude zwischen entstellten Hüllen der Vergangenheit inszenierte Drama spricht Probleme auf dem Weg eines Neuanfangs nach dem Krieg an und gab dem zeitgenössischen Publikum damit mehr als einen Wink mit dem Zaunpfahl, wie Marschrichtung und Vergangenheitsbewältigung auszusehen haben. Lamprecht setzt dies so anrührend und authentisch um, dass die inherente Naivität seines Films kaum kritisiert werden kann. 4 von 5 Punkten.

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