Danke, liebe Cora Ann, für Deine Ausführungen, die einen Vergleich Buch - Film beinhalten. Mit was befasst Du Dich denn zuerst - mit dem Buch? Und danach mit dem Film? Wenn man den Film zuerst schaut und gleich hinterher das Buch liest, ist es meines Erachtens ja klar, dass man beim Lesen die Fernsehfiguren wieder vor sich sieht ...
Bei mir ist es so, dass ich Maigret durch diese Serie kennengelernt habe. Danach habe ich erst die Bücher "entdeckt". Die meisten Maigret-Romane fand ich sehr spannend: Ich konnte gar nicht aufhören zu lesen, bis ich endlich beim Schluss angelangt war. Somit habe ich mir ungewollt halbe Nächte um die Ohren geschlagen. Allerdings muss ich gestehen: Film und Buch konnte ich nie miteinander in Einklang bringen. Das Bucherlebnis war immer ein ganz anderes als das vom Film. Der Buch-Maigret war eben der Buch-Maigret: Sein Gesicht wird nie beschrieben, sein Körper ist sehr massig und schwer, aber trotzdem stark. Wenn Maigret nächtelang auf der Spur des Verbrechers ist, kämpft er bis zum Umfallen gegen die Müdigkeit an, aber meist hält er ja durch. Erst nachdem er ein überzeugendes Geständnis hat, will er den versäumten Schlaf in eins nachholen. Die Romane sehen den Kommissar mehr von innen her, statt von außen. Gedanken, Vermutungen, Überlegungen, Unsicherheiten, Gefühle. All diese inneren Werte übertragen sich beim Lesen sehr stark auf mich, den Leser. Dabei ist es aber eigentlich egal, wie Maigret denn nun genau aussieht, ich will das gar nicht so genau wissen. Viel interessanter ist, die inneren Beweggründe zu erfahren, die zum Verbrechen geführt haben. Bei Simenon ist das Warum, so scheint mir, wichtiger als das Werwars.
Beim Fernsehfilm werden naturgemäß zunächst einmal äußere Eindrücke vermittelt. Diese äußeren Eindrücke sind sehr stark. Durch Dialoge und Gesten versuchen die Schauspieler, auch innere Werte auszudrücken, aber - in meinem Fall ist das so - die äußeren Eindrücke bleiben dominant. Es kommt in ein paar Episoden vor, dass am Schluss Maigret und Lucas zum Beispiel in einer Bar bei einem Glas Bier die Lösung des Falles in wenigen Worten besprechen, so dass der Zuschauer auch den Fall für sich abschließen kann. Zumindest ist das wohl so gedacht. Funktioniert aber nicht immer, zumindest nicht bei mir. Witzige Bemerkungen inmitten dieser Fall-Erklärungen, dazu laute Musik aus der Musiktruhe, der Wirt fragt zwischendurch: Darfs noch ein Gläschen sein?, ein leichtes Mädchen stößt Lucas an, ein schwerer Junge lacht lauthals im Hintergrund hämisch über den Kommissar - die Erklärungen des Falles gehen für mich ins Leere. Äußere Eindrücke übertrumpfen alles. Das Motiv, auf das es Simenon doch so sehr ankommt, verblasst.
Egal. Schlussendlich möchte ich noch sagen, dass mir die Filme trotzdem besser gefallen als die Romane. Es geht doch nichts über eine schwungvolle Krimiserie, die ich eben leider manchmal nicht ganz verstehe.
Ich muss gestehen, ich beginne immer mit dem Film und gleich darauf kommt das Buch. Und genau wie du schreibst, sieht man dann die Filmfiguren vor sich.
Ich habe "Maigret" durch Jean Gabin kennengelernt, aber erst meine Faszination an Rupert Davies hat mich dazu gebracht, auch die literarischen Vorlagen von Georges Simenon zu lesen. Auch ich empfinde es so wie du, dass den Autor die Milieuschilderung und die psychologischen Hintergründe eines Verbrechens weitaus intensiver beschäftigen als dessen genauer Ablauf.
"Kommissar Maigret" mit Rupert Davies verströmt trotz gelegentlicher Veränderungen verschiedener Art ganz und gar die Atmosphäre von Simenons Büchern. Gerade die Szenen, in denen Maigret und Lucas bei mehr oder weniger Alkohol den Fall erörtern oder wenn sich der Kommissar unter das Volk mischt, dann ist die Serie ganz und gar am Original der literarischen Vorlage. Natürlich funktioniert eine Fernsehserie zunächst über Äußerlichkeiten, aber das geschieht hier niemals zum Selbstzweck, und das Innenleben der handelnden Charaktere wird stets deutlich. Rupert Davies lässt seinen Maigret häufig in Ruhe nachdenken, ehe er ihn physisch aktiv werden lässt. Und seine innere Anteilnahme am Schicksal der Menschen, mit denen er es in seinen Fällen zu tun bekommt, ist immer spürbar. Gerade Maigrets tiefe Mitmenschlichkeit ist einer der Gründe, dass er so über alle Maßen sympathisch auf den Zuschauer wirkt. Der Kontrast zwischen der imposanten, massiven Statur dieses Mannes und seiner empfindsamen Seele, auch wenn er diese häufig hinter zur Schau getragener Bärbeißigkeit verbirgt, sind geradezu unwiderstehlich.
Und was die körperliche Erschöpfung angeht, die teilen der literarische Maigret und Rupert Davies in der Serie doch mit einander: Maigret ist müde und übernächtigt in "Inspektor Lognons Triumph", weil er mehr schlecht als recht auf dem Feldbett in seinem Büro geschlafen hat und er kuriert einen Schnupfen zu Hause im Bett aus ("Maigret und sein Toter"). Überdies ist er deprimiert und fühlt sich schuldig am Tod eines Menschen in "Maigret unter den Anarchisten" und er ist zutiefst empört über das unmenschliche Vorgehen einer gewissenlosen Verbrecherbande ("Maigret und sein Toter") Ganz zu schweigen davon, was Kommissar Maigret in Ausübung seiner Pflicht alles durchmachen muss: ein Gangster versucht ihn zu erschießen ("Maigret und die Gangster"), er und Lapointe liefern sich eine Schießerei mit einem Ganoven ("Inspektor Lognons Triumph"), man stößt ihn vor einen Zug und später schießt man auf ihn ("Maigret unter den Anarchisten") und man schlägt ihn nieder, fesselt und knebelt ihn ("Maigret und der geheimnisvolle Kapitän")
"Lucas, jetzt guck aber mal ein bisschen fröhlicher. Wir haben Grund, uns ein Gläschen zu genehmigen."
Eine wunderbare Neuigkeit! Genau der richtige Veröffentlichungstermin - am nächsten Tag kann ich mit "Maigret III" meinen Geburtstag feiern.
“Maigret und die Anarchisten” (“The Children’s Party”)
Regie: Gerard Glaiser
Drehbuch: Giles Cooper
Darsteller: Rupert Davies (Kommissar Jules Maigret), Helen Shingler (Madame Maigret), Ewen Solon (Lucas), Alan Tilvern (Joseph van Damme), Gerald Cross (Maurice Belloir), Richard Burrell (Jef Lombard), Constance Wake (Jeanine Jeunet), Denis Holmes (Inspektor Bergsma), Allan McClelland (Armand Lecocq d’Arneville)
Literarische Vorlage: “Le Pendu de Saint-Pholien” (“Maigret unter den Anarchisten” / “Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien”)
Der folgende Beitrag beinhaltet Spoiler.
“Dreitausend. Geld genug. Trotzdem hat er sich erschossen.” (Maigret) “Dabei hätte er sich damit tot saufen können.” (Lucas)
“Ein Selbstmord?” (Maurice Belloir) “Das ist es gewöhnlich, wenn man sich erschießt.” (Joseph van Damme)
“Soll ich die Kanone mitnehmen?” (Lucas) “Nein, er ist nicht gefährlich.” (Maigret) “Was hat er gemacht?” (Lucas) “Mich vor einen Zug gestoßen.” (Maigret) “Nicht gefährlich?” (Lucas) “Nein, er hat mich ja gleich wieder gerettet.” (Maigret)
“Was ist denn passiert?” (Madame Maigret) “Lucas. Er ist jemandem bis nach Lüttich gefolgt, und ich hab’ vergessen, ihm den Namen des Mannes zu sagen.” (Maigret)
“Verstehst du das? Es ist doch ulkig. Ich trinke sehr oft belgisches Bier in Frankreich, aber wenn ich in Belgien bin, trinke ich englisches Bier.” (Maigret) “Und in England?” (Lucas) “Da trinke ich schottischen Whisky.” (Maigret)
“Ach hier, da steht doch irgend etwas. Von wem sind diese Verse? Von Francois Villon, denke ich. ‘Ihr seht uns hängen, fünf und sechs Gefährten. Der Regen wusch uns ab und wusch uns rein, sollt euer Herz nicht gegen uns verhärten, doch bittet Gott, er möge uns verzeihen ... Sagen Sie Monsieur Lombard, was war das? Was soll Ihnen Gott denn verzeihen?” (Maigret)
“Ein besonders reizender Mensch hat eben auf mich geschossen.” (Maigret) “Hat er Sie getroffen?” (Lucas) “Gemütsmensch!” (Maigret)
“Der Name Maigret wirkt immer.” (Lucas) “Danke für die Blumen!” (Maigret)
“Wenn du dich nicht beeilst, passiert in den nächsten fünf Minuten auch was Furchtbares!” (Maigret zu Lucas)
“Nächtelang sassen wir hier, tranken billigen Wein und entwickelten phantastische Theorien.” (Jef Lombard)
“Narben haben wir alle zurückbehalten.” (Maurice Belloir)
“Klein war bei seinem Lieblingsthema und er schrie: ”Ein Mann muss töten können, er muss beweisen, dass er kein Feigling ist.” In der Natur sei es ja auch so, dass die Starken die Schwachen verschlingen. Mitleid sei in Wirklichkeit Schwäche, und alles Leben nur eine Hautkrankheit dieser Erde.” (Jef Lombard)
“Der Fall war also kein Fall?” (Lucas) “Was sagt Villon? Ihr seht uns hängen, fünf und sechsGefährten. Der Regen wusch uns rein. Doch bittet Gott, er möge uns verzeihen.” (Maigret)
Kommissar Jules Maigret fährt von einer Konferenz in Brüssel mit dem Zug nach Rotterdam, als das mysteriöse Verhalten eines Mitreisenden seine Neugier weckt. Der junge Mann verfügt trotz seiner schäbigen Kleidung über 3000 belgische Franc, wovon sich Maigret im Bahnhofsrestaurant überzeugen konnte. Der Kommissar vertauscht den Koffer des Fahrgastes mit einem identisch aussehenden Gepäckstück und lässt diesen durch Inspektor Bergsma von der niederländischen Grenzpolizei in Anwesenheit des jungen Mannes öffnen. Als der Reisende den leeren Koffer erblickt, ergreift er einen Revolver und erschießt sich.
Der gefälschte Pass des Toten lautet auf den Namen Louis Jeunet, wohnhaft in Paris. Erst später wird durch seinen Bruder Armand seine tatsächliche Identität, von der nicht einmal seine von ihm seit zwei Jahren getrennt lebende Frau Jeanine etwas ahnte, als Jean Lecocq d’Arneville ermittelt. Der eigentliche Inhalt des Koffers von Jean Lecocq d’Arneville gibt Kommissar Maigret ein weiteres Rätsel auf, da dieser nichts weiter enthält als in Lüttich hergestellte, abgetragene Kleidungsstücke, die mit Blut befleckt sind. Zudem sind die Sachen um einiges zu groß, um die Garderobe des Toten gewesen zu sein.
Aus Lüttich stammt auch ein gewisser Joseph van Damme, seines Zeichens Exportkaufmann, der ein reges Interesse an dem Ableben des ihm angeblich nicht bekannten Mannes bekundet. Von van Damme führt Kommissar Maigret die Spur zu dem Bankier Maurice Belloir und dem als Fotograf tätigen Kunstmaler Jef Lombard. Lombards Zeichnungen zeigen ausschließlich Kirchen mit Gehängten. Die drei Männer waren einst Kommilitonen und Mitglieder einer obskuren Organisation namens “Les Compagnons de l’ Apokalypse”.
Kommissar Maigret ist in dieser Episode sehr oft außerhalb von Paris unterwegs. Brüssel, Rotterdam, Reims und Lüttich heißen die Stationen seiner Ermittlungen, doch eigentlich führt ihn seine Reise in die Vergangenheit und fördert ein Geheimnis zutage, das drei Menschen das Leben gekostet hat und zwei andere an den Rand ihrer psychischen Belastbarkeit treibt ...
Anmerkungen:
Zitat “Hier, wo die ausgefallensten Gegenstände zum Vorwand dienten, um nächtelange Debatten zu führen, musste das Rätsel des Lebens und des Todes auch zur Sprache kommen.”
“Das sage ich dir, mein Lieber: zehn solche Fälle wie dieser, und ich lasse mich pensionieren. Denn dann wäre bewiesen, dass der große, alte Mann dort oben, den man als lieben Gott bezeichnet, die Geschäfte der Polizei am besten erledigt.”
(Georges Simenon: “Maigret unter den Anarchisten”)
“Maigret und die Anarchisten” ist eine düstere Studie darüber, wie leicht sich jugendlicher Idealismus in eine abstruse Gedankenwelt verirren kann, in der andere Menschenleben als “unwert” und entbehrlich gelten. Eine Studie über Menschen, die einst ihr Dasein lediglich als Absurdität empfanden und dies mit ständigem Alkoholmissbrauch sowie durch absurde “Mutproben” zur Bestätigung eines widersinnigen Männlichkeitsideals zu betäuben versuchten.
Erstmals innerhalb der Serie nimmt Maigret das Gesetz in die eigene Hand. Er nimmt den Schuldigen die Beichte ab, denn nichts anderes ist deren Geständnis im Angesicht des beharrlich schweigenden, intensiv zuhörenden und nur gelegentlich Zwischenfragen stellenden Kommissars und überlässt sie anschließend sich selbst statt sie den zuständigen Polizeibehörden zu übergeben. Er gewährt ihnen auf diese Weise zwar seine Absolution, ändert jedoch für die Betroffenen nichts. Aus ihrer selbstgeschaffenen Hölle gibt es für sie kein Entrinnen.
Passend zur bedrückenden Stimmung des Films bewegen sich die handelnden Personen oft in nächtlicher Szenerie, in Dunkelheit und Zwielicht. Wenn Kommissar Maigret zur finalen Konfrontation mit den Schuldigen im Halbdunkel die Stufen eines halb verfallenen Hauses emporsteigt, wähnt sich der Zuschauer gar in einem klassischen Horrorfilm, umso mehr als hinter einer geöffneten Tür ein mit Spinnweben überzogener Totenschädel in einem grotesk eingerichteten Mansardenzimmer zum Vorschein kommt.
Nachdem bereits in “Maigret und die Gangster” ein Anschlag auf den Kommissar unternommen wurde, gerät er in dieser Folge sogar zweimal ein Lebensgefahr: er wird vor einen Zug gestoßen, und man schießt auf ihn.
Die einzigen Lichtblicke in der Finsternis dieses Falles sind das Erscheinen von Madame Maigret, die man endlich einmal an der Seite ihres Mannes im Ehebett zu sehen bekommt sowie die gewohnt heiteren Auftritte von Inspektor Lucas, der sich unter anderem so sehr auf seinen Flirt mit einer attraktiven Tischnachbarin konzentriert, dass ihn sein Chef ermahnen muss, seine Pflichten nicht zu vernachlässigen.
Drehbuchautor Giles Cooper hat Georges Simenons literarische Vorlage in einigen Punkten verändert, indem er zum Beispiel die Figur des Bildhauers Gaston Janin eliminierte und die den Film einleitende Zugfahrt Maigrets von Lüttich nach Bremen statt dessen von Brüssel nach Rotterdam verlegte. Das Attentat auf Maigrets Leben ist im Roman ein Versuch, ihn in die Marne zu stoßen, und Jean Lecocq d'Arneville erschießt sich nicht im Zug sondern in einem Hotelzimmer in Bremen. Maigrets Deutschkenntnisse beschränken sich übrigens auf das Stammeln einiger Worte. Da es sich bei “Maigret unter den Anarchisten” um ein Frühwerk handelt, ist Maigret natürlich alles andere als berühmt und erledigt die gesamte Ermittlungstätigkeit persönlich, statt dass er sich wie im Film auf die Mitarbeit des treuen Lucas verlassen kann.
Alan Tilvern (1918–2003) war- allerdings durch gefärbte Haare und eine Brille sehr verändert - als FBI-Agent Jimmy MacDonald in der Folge “Maigret und die Gangster” bereits zu Gast bei “Kommissar Maigret”. In “Maigret unter den Anarchisten” verkörpert er Joseph van Damme, dessen Name Assoziationen zu Philipp Vandamm in Alfred Hitchcocks “Der unsichtbare Dritte” (1959) weckt. Ähnlich wie dieser ist auch er ein kultivierter, äußerst selbstsicher auftretender Herr, der selbst bei kriminellen Aktivitäten wie einem Mordversuch oder einer Bestechung kaum jemals seine Contenance verliert. Mit kühler Überlegenheit dominiert er seine Kumpane Belloir und Lombard, deren Nervensysteme augenscheinlich weitaus mehr in Mitleidenschaft gezogen wurden als das seine.
Gerald Cross (1912–1981) verkörpert Maurice Belloir als einen Mann, dessen elegante Fassade sich als äußerst brüchig erweist. Zwar leitet er das größte Bankhaus in Reims, ist mit einer wohlhabenden Frau verheiratet und angesehener Familienvater, jedoch erfüllt ihn allein die bloße Erwähnung eines bestimmten Namens mit Entsetzen, und jeden Moment können die Schrecken der Vergangenheit erneut lebendig werden, um ihn endgültig zu zerstören.
Wenn sich Belloir wenigstens äußerlich noch unter Kontrolle hat, so ist Jef Lombard bereits ein gebrochener Mensch, den lediglich die Geburt seines dritten Kindes zumindest zeitweilig aus seiner seelischen Zerrüttung zu befreien vermag. Richard Burrell (1925–1984) gestaltet seine Rolle zutiefst ergreifend.
Liebe Cora Ann, Deine Fan-Darlegungen in Wort und Bild sind wieder ein Fest! Dabei handelt es sich mit "Maigret und die Anarchisten" ja diesmal um eine Episode, die vom Thema und von der Düsternis her zarte Seelen depressiv machen kann. Auch einige andere Folgen dieser Serie können so manchem Zuschauer - sogar erwachsenen Zuschauern - eventuell arg zusetzen, denn sie sind eben keine Kinderstunde. Insofern ist in diesem Fall der englische Titel "The Children’s Party" - ich stimme da mir Dir überein - verharmlosend und unpassend. Ich glaube, auch die FSK hat ihre Sache mit der Freigabe "ab 12" zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Das ZDF war 1965 bei der deutschen Erstausstrahlung deutlich verantwortungsvoller mit dem Hinweis vor bestimmten Maigret-Folgen: "Für Jugendliche nicht geeignet".
“Maigret und der Schatten am Fenster” (“Shadow Play”)
Regie: John Harrison
Drehbuch: Giles Cooper
Darsteller: Rupert Davies (Kommissar Jules Maigret), Ewen Solon (Lucas), Anne Pichon (Melanie Martin), Robert Bernal (Monsieur Martin), Delena Kidd (Nina Moinard), Richard Martin (Roger Couchet), Ruth Taylor (Madame Couchet), Topsy Jane (Cèline), Nan Marriott-Watson (Concierge), Michael Barrington (Monsieur de Saint-Marc), Sally Latimer (Mathilde)
Literarische Vorlage: “L’Ombre chinoise” (“Maigret und der Schatten am Fenster” / Maigret und das Schattenspiel”) von Georges Simenon
Der folgende Beitrag enthält Spoiler.
“Aber hören Sie mal, es handelt sich hier um einen Mord!” (Maigret) “Hier im Haus gibt’s im Moment aber was viel Wichtigeres als diesen Mord. Madame de Saint-Marc liegt nämlich in den Wehen.” (Concierge)
“Was ist denn das für ‘ne Type?” (Maigret) “Er ist städtischer Beamter. Kann einem wirklich leid tun, der arme Mann.” (Concierge) “Weil er Beamter ist?” (Maigret)
“Sonst noch ‘n Wunsch?” (Lucas) “Ja, ein Bett.” (Maigret)
“Darf ich reinkommen?” (Maigret) “Ach, Sie sind’s. Wie spät ist es denn?” (Nina Moinard) “Halb zehn vorbei.” (Maigret) “Zu früh für mich, aber für Sie wahrscheinlich nicht.” (Nina Moinard)
“Aber ich lass ihn ruhig saufen, ist besser als die Kokserei. Finden Sie nicht auch?” (Cèline) “Ohne Zweifel.” (Maigret)
“Kommissar Maigret. Kriminalpolizei.” (Maigret) “Gehen Sie wieder nach nebenan zu ihren Mädchen ...” (Roger Couchet) “Der Kommissar ist dienstlich hier, Roger.” (Monsieur Martin)
“Eine Aristokratin, eine Kleinbürgerin und eine Tänzerin.” (Maigret) “War ein vielseitiger Herr, dieser Couchet.” (Lucas) “Aber ein feiner Kerl und irgendwie imponierend. Schließlich hat er zwei Frauen glücklich gemacht. Dazu gehört schon etwas.” (Maigret) “Na und? Das schaff’ ich auch, Chef.” (Lucas) “Gib nicht so an, Lucas!” (Maigret)
“Und nun, Lucas, habe ich eine sehr erfreuliche Arbeit für dich. Fahr bitte zur Städtischen Müllabfuhr und buddele da im Abfall herum.” (Maigret)
“Er hat geglaubt, er hätte sein Leben verspielt, dabei hat jeder die Chance, noch einmal neu anzufangen.” (Maigret)
“Was haben Sie heute morgen vor?” (Maigret) “Gar nichts.” (Nina Moinard) “Also, dann werden wir beide jetzt fischen gehen. Kommen Sie, mein Kind.” (Maigret)
Am Place de Vosges wurde der vermögende Geschäftsmann Raymond Couchet im Büro seines Unternehmens erschossen. Aus dem Firmensafe sind 60 000 Franc verschwunden.
Kommissar Maigrets Ermittlungen konzentrieren sich auf das merkwürdige Privatleben des Toten. Melanie Martin, Couchets erste Frau, die für ihren geschiedenen Gatten nichts als Hass und Verachtung empfindet, wohnt in dem Miethaus, in dessen Nachbarschaft sich der Mord ereignet hat. Sie ist mit einem sanften und schüchternen Beamten verheiratet, den sie nach Herzenslust terrorisiert. Madame Couchet weiß angeblich nicht, dass ihr Mann eine außereheliche Affäre mit der jungen Tänzerin Nina Moinard unterhielt. Roger, Couchets Sohn aus erster Ehe, finanziert sein süßes Nichtstun sowie seinen exzessiven Lebenswandel nahezu ausschließlich durch Geldzuwendungen seines Vaters. Raymond Couchet hat testamentarisch verfügt, dass sein beträchtliches Vermögen zu gleichen Teilen seiner geschiedene Frau, seiner derzeitigen Gattin sowie seiner Geliebten zufallen soll. Lediglich sein Sohn Roger ist vollständig vom Erbe ausgeschlossen.
Dass ausgerechnet Roger Couchet, der durch ein fehlendes Alibi und dadurch, dass er sich in permanenter Geldnot befindet, besonders verdächtig erscheint, Selbstmord verübt, gibt Kommissar Maigret ein weiteres Rätsel auf ...
Anmerkungen:
Zitat “Maigret sah, die Hände in den Taschen und die Pfeife zwischen den Zähnen, zu den Fenstern des ersten Stocks hinauf. Er hatte den Eindruck, es nahte sich der entscheidende Augenblick, denn die Schatten bewegten sich jetzt schneller ...”
“Beide reagierten falsch und gerieten dadurch in eine komische Situation. Das Mädchen entdeckte die Leiche, drehte sich erschrocken um und sah im Türrahmen einen hochgewachsenen Mann stehen. Natürlich dachte sie, das könnte nur der Mörder sein. Geduckt, mit weit aufgerissenen Augen stand sie ihm gegenüber. Sie öffnete den Mund, um einen Hilferuf auszustoßen und lies dann ihre Handtasche fallen. Maigret hatte keine Zeit zu Verhandlungen. Er packte sie am Arm und legte ihr eine Hand auf den Mund. “Ruhig! Sie täuschen sich. Polizei.”
“Maigret sah ihm tief in die Augen und merkte, wie sein Gesprächspartner vor Angst verging.”
“Die Düsterkeit war deprimierend. Der Geruch der Armut, der Geruch des Alters, und vielleicht schon der Geruch des Todes hingen zwischen den Wänden.”
(Georges Simenon: “Maigret und der Schatten am Fenster”)
Nach “Maigret als möblierter Herr” führen den Kommissar seine Ermittlungen erneut in ein Wohnhaus mit höchst unterschiedlichen Mietern. Doch im Gegensatz zu der früheren Folge überwiegen dieses Mal die Schattenseiten des Lebens. Der Tatort befindet sich ganz in der Nähe seiner Wohnung am Boulevard-Richard-Lenoir, so dass Maigret nach der Erstaufnahme des Verbrechens zu Fuß nach Hause gehen kann. Der stets im Halbdunkel befindliche Hinterhof des Mietshauses am Place de Vosges verströmt eine Atmosphäre der Trostlosigkeit. Schattenrisse auf den Gardinen lassen nur ahnen, was hinter den Fenstern vorgeht. Trotz scheinbarer Höflichkeit im Umgang mit einander sind sich die Nachbarn fremd, und sozialen Außenseitern wie der alten Mathilde, die sich nicht zu wehren weiß, wird sogar mit offener Geringschätzung begegnet. Kommissar Maigret trägt durch seine Güte einen Funken menschliche Wärme in diese Kälte. Er spricht der über den Tod ihres Liebhabers fassungslosen Nina Moinard sanft zu und leiht der in einer finanziellen Verlegenheit befindlichen jungen Frau bereitwillig das Fahrgeld für ihre Heimreise.
Die schreckliche Ironie dieser Episode besteht darin, dass der begangene Mord sich als völlig sinnlos erweist, da nicht nur das entwendete Geld zumindest teilweise unwiederbringlich verloren ist, sondern auch der durch das Verbrechen erhoffte finanzielle Gewinn in keinem Verhältnis zu der Summe steht, die auf ganz legale Weise den Beteiligten zugefallen wäre.
Giles Cooper hat sich bei seinem Drehbuch die Freiheit zu einigen Veränderungen an der literarischen Vorlage von Georges Simenon genommen. Die entwendete Geldsumme ist im Film weitaus niedriger als im Roman, Madame Martin trägt einen anderen Vornamen und auch ihr Elternhaus wird abweichend geschildert. Das Begräbnis von Raymond Couchet wurde ebenso eliminiert wie die Nebenfigur des Oberst Dormoy. Roger Couchets Suizid geschieht im Roman in Abwesenheit des Kommissars, dass Maigret ihn in der Fernsehadaption im Nachbarzimmer persönlich miterlebt und darauf mit großer Betroffenheit reagiert, erhöht die Dramatik der Szene. Die Verhaftung des vermeintlichen Täters nimmt nicht Kommissar Maigret selbst vor sondern sein Mitarbeiter Lucas. Leider tritt Madame Maigret- im Gegensatz zum Roman - nicht in Erscheinung. Coopers heitere Schlusspointe zwischen Kommissar Maigret und Nina Moinard ist mehr dazu angetan, den Zuschauer in einem weniger deprimiertem Zustand aus dieser bedrückenden Episode zu entlassen als Simenons letztes Kapitel.
Anne Pichons Darstellung der Madame Martin ist das ergreifende Porträt einer despotischen, von der Gier nach sozialem Aufstieg seelisch zerstörten Frau, deren Abdriften in die geistige Umnachtung - ihr leerer Blick, die hysterischen Ausbrüche und ihr völliger Realitätsverlust lassen den Zuschauer erschaudern - als unvermeidliche Konsequenz erscheint. Die Schauspielerin (Jahrgang 1914) war übrigens viele Jahre mit dem Regisseur Gerard Glaister (1915–2005) verheiratet, der acht Episoden von “Kommissar Maigret” inszeniert hat.
Nicht weniger berührend agiert Robert Bernal (1923–1973) in seiner Rolle als Monsieur Martin. Ein fürsorglicher, jedoch schwacher und furchtsamer Mann, der sich aus blinder Liebe selbst demütigt und zu Handlungen verleiten lässt, die seinem Gewissen diametral entgegenstehen.
Nan Mariott-Watson (1900–1982) ist nach “Maigret und die alte Dame” erneut zu Gast bei “Kommissar Maigret” und liefert die treffliche Studie einer resoluten Concierge, die über das ihr anvertraute Miethaus als ihr persönliches Reich gebietet. Die strikte Einhaltung sämtlicher Vorschriften der Hausordnung scheint ihr einziger Daseinszweck zu sein, während ihr Unterhaltungsmusik völlig fremd ist, da sie einen Twist als Jazz bezeichnet. Die dramatische Prätitelsequenz, in der sie nach dem Auffinden der Leiche von Raymond Couchet hysterisch in Großaufnahme die Kamera schreit, würde einem klassischen Horrorfilm zur Ehre gereichen.
Vielen Dank, liebe Cora Ann, dass Du Dich auch mit dem "Schatten am Fenster" befasst hast. Ich habe die Folge vor kurzem zum erstenmal gesehen. Eine Szene wirkte schockierend auf mich, nachhaltig, und deshalb stellt sich für mich wiederum die Frage, ob ich mir "Maigret" überhaupt ansehen darf, obwohl ich aus dem Kindesalter doch längst heraus bin. Pidax sollte entsprechende Folgen am besten kennzeichnen mit dem Hinweis: Für Berthold nicht geeignet.
Demgegenüber bin ich jedoch der Ansicht, dass alle Edgar-Wallace-Filme mich nicht umhauen können, denn dort erwarte ich ja regelrecht Schreck-Szenen, die aber bei mir nie tief ins Herz treffen, sondern lediglich optisch-oberflächlich starke Eindrücke hinterlassen, mehr aber auch nicht. Bei "Maigret" ist das anders. Unverhofft bekomme ich Einsichten geliefert, die wahrlich unter die Haut gehen können. Um welche Szene es sich in diesem Fall handelt, möchte ich lieber - aus persönlichen Gründen - für mich behalten, es ist nicht die Schrei-Szene.
Zitat von Cora Ann Milton im Beitrag #142Die dramatische Prätitelsequenz, in der sie (edit: die Concierge) nach dem Auffinden der Leiche von Raymond Couchet hysterisch in Großaufnahme in die Kamera schreit, würde einem klassischen Horrorfilm zur Ehre gereichen.
Jene Schrei-Szene direkt vor dem musikbetonten Titel steht beispielhaft für weitere Maigret-Filme dieser Serie. Ein Schrei direkt vor der Titelmelodie kommt nämlich in mehreren Episoden vor. Das liegt am Konzept der Serie. Dem Komponisten Ron Grainer wurde sicherlich gesagt: Machen Sie eine Titelmusik, die mit ihren ersten Takten eine unheilvolle Szenerie dunkel unterstreichen und auffangen soll, bevor sie dann ins Leichtere übergeht. Ein vorgesetzter Schrei passt wohl am besten zu den dunklen ersten Takten der Ron-Grainer-Musik. Natürlich gibt es auch zig andere Möglichkeiten, etwas Unheilvolles voranzusetzen, wie z. B. bei "The Fontenay Murders" ("Maigret hat Angst"), wo die Musik erst ins Beschwingtere umschlägt, als Maigrets Hand mit dem Streichholz erscheint:
Die deutsche Maigret-Titelmusik von Ernst August Quelle nimmt nicht zwingend Bezug auf etwas Unheilvolles, der Vorspann könnte insofern auch ruhig mal heiter enden, tut er aber nie. Selbst in "Murder on Monday" ("Maigret und der Mann auf der Bank"), wo er durchaus ironisch-heiter beginnt, endet er konzeptgemäß doch wieder mit einem Schrei:
Der unheimlichste Schrei dieser Maigret-Serie kommt meines Erachtens übrigens in "Maigret und die Kanalratten" vor. Der Vorspann kommt dem eines Edgar-Wallace-Films nahe.
Darsteller: Rupert Davies (Kommissar Jules Maigret), Ewen Solon (Lucas), Victor Lucas (Torrence), Noel Howlett (Comeliau), Faith Brook (Aline Calas), Jennifer Daniel (Lucette), George Baker (Dominic Père), Michael Alexander (Professor Pierre Lavaud), John Gray (Antoine Cristin), Denis McCarthy (Bourgain), John Salew (Dr. Paul)
Literarische Vorlage: “Maigret et le corps sans tète” (“Maigret und der Kopflose” / "Maigret und die kopflose Leiche”) von Georges Simenon
Der folgende Beitrag enthält Spoiler.
“Was hat er denn?” (Dr. Paul über Torrence) “Schlecht gefrühstückt.” (Maigret) “Er ist ja ganz grün im Gesicht ...” (Dr. Paul)
“So, jetzt müsste ich mal irgendwo telefonieren und Torrence braucht dringend einen Schnaps.” (Maigret) “Genau!” (Torrence) “Die Autopsie ist ihm auf den Magen geschlagen.” (Maigret)
“Ich glaube, ich weiß, aus welcher Gegend dieser gute Tropfen stammt. Aus Poitiers. Stimmt’s? Er hat dieses gewisse Feuer.” (Maigret)
“Ich komme wieder. Ihr Wein hat mir zu gut geschmeckt.” (Maigret)
“Ich gebe zu, Maigret, dass meine Methoden von denen anderer Untersuchungsrichter etwas abweichen.” (Comeliau) “Die Anderen lassen mich in Ruhe arbeiten und warten ab, bis ich meinen Bericht vorlege.” (Maigret)
“Essen Sie schön regelmäßig, das ist wichtig für Ihre Arbeit.” (Comeliau zu Maigret)
“Lassen Sie mir ein Bier und ein belegtes Brötchen raufbringen. Natürlich für mich, für wen sonst?” (Maigret)
“Torrence, ich habe gehört, du hast ein Taxi genommen. Seit wann kannst du nicht zu Fuß gehen?” (Maigret)
“Sie gehört zu denen, die mit ihrem Geheimnis auf die Guillotine gehen.” (Maigret)
“Schließlich war er in ihrem Schrank versteckt.” (Comeliau) “Monsieur, wenn das ein Verbrechen ist, müssten wir die Hälfte aller Männer in Paris verhaften.” (Maigret)
“In meinem Beruf benutzt man ein Skalpell, in Ihrem anscheinend einen Holzhammer.” (Professor Lavaud)
“Sie hatten ganz recht, ein einfacher Fall ...” (Maigret)
Aus einem Pariser Kanal werden die Teile einer zerstückelten männlichen Leiche geborgen. Da der Kopf fehlt, gestaltet sich die Identifizierung als schwierig. Unter den Fingernägeln des Toten finden sich Überreste einer Substanz zum Verschließen von Weinflaschen, was Kommissar Maigret auf die Spur des Barbesitzers Omer Calas bringt.
Aline Calas, die es mit der ehelichen Treue alles andere als genau nimmt, gibt an, ihren Mann seit zehn Tagen nicht mehr gesehen zu haben, da er in der Region von Poitiers unterwegs sei , um neuen Wein einzukaufen. Sie zeigt sich über das spurlose Verschwinden von Omer ebensowenig besorgt wie ihre Tochter Lucette, die als Sekretärin des renommierten Chirurgen Professor Pierre Lavaud tätig ist. Angeblich unterhalten Mutter und Tochter seit geraumer Zeit keinen Kontakt mehr zu einander, eine Behauptung, die der Kommissar schnell als Lüge entlarvt. Maigrets weitere Ermittlungen ergeben, dass Omer Calas ein haltloser Trinker und Schläger war, der seine Frau ständig tyrannisierte ...
Anmerkungen:
Zitat “Sie mussten etwa dreihundert Meter gehen, bis sie eine düstere Kneipe fanden, deren Tür der Kommissar öffnete. Man musste zwei Steinstufen hinabsteigen, und der Fußboden bestand aus kleinen dunkelroten Fliesen wie in den Marseiller Häusern. ... Man hörte das übereifrige Ticken einer Kuckucksuhr. Die Luft roch nach Schnaps und Weißwein, mehr nach Schnaps als nach Wein und auch ein wenig nach Kaffee. ... Die Decke war niedrig, verräuchert, die Wände waren geschwärzt, das Zimmer lag im Halbdunkel. Nur ein paar Sonnenstrahlen drangen herein wie durch die Glasfenster einer Kirche.”
“Sein Gesicht verzog sich missmutig, als er hörte, dass der Fall Untersuchungsrichter Comèliau zugewiesen worden sei, Comèliau der so etwas wie Maigrets intimster Feind war, der bürokratischste Beamte und verbissenste Feilscher unter allen Richtern.”
“Ein Streichholz war aufgeflammt, und Maigrets Pfeife brannte. Comèliau, der Tabakrauch nicht ausstehen konnte, sah ihn starr an wie jedes Mal, wenn einer die Vermessenheit besaß, in seinem Arbeitsraum zu rauchen, aber der Kommissar war fest entschlossen, seine Unschuldsmiene beizubehalten.”
(Georges Simenon: “Maigret und der Kopflose”)
“Maigret und der Kopflose” ist ein Familiendrama über eine sich von Leidenschaft zu Hass wandelnde Ehe, in der häusliche Gewalt Menschen an den Rand der physischen und psychischen Belastbarkeit sowie zu extremen Handlungen treibt.
Inmitten der Düsternis des Falles sorgt Rupert Davies für Momente der Erheiterung, etwa wenn sein Maigret mit jungenhaftem Vergnügen Calas’ Bar von Gästen leert, um mit der Dame des Hauses unter vier Augen sprechen zu können. Auch sein amüsiertes Grinsen, als er Antoine aus dessen Versteck in einem Schrank befreit, fällt in diese Kategorie. Für die amüsanten Einlagen ist jedoch in erster Linie Victor Lucas als Inspektor Torrence zuständig, zum Beispiel durch seine entgleisten Gesichtszüge angesichts einer kopflosen Wasserleiche in der Pathologie oder indem er das von seinem Chef stehen gelassene Bier auf einen Zug austrinkt und den Kellner der “Brasserie Dauphin” kurzerhand durch Hochheben aus dem Weg befördert, als dieser die Tür zum Büro blockiert.
“Maigret und der Kopflose” markiert den ersten Auftritt von Untersuchungsrichter Comèliau, einem ebenso beschränkten wie arroganten Menschen, der sich ständig in die Ermittlungen von Kommissar Maigret einmischt. Comèliau verlangt stets rasche Ergebnisse und nimmt die erstbesten Verdachtsmomente als gegeben hin. Man schaudert bei dem Gedanken, wie viele unbescholtene Bürger aufgrund der Unfähigkeit dieses Juristen in ernsthafte Schwierigkeiten geraten könnten. Noel Howlett (1902-1984) verkörpert diesen Inbegriff menschlicher Ignoranz kongenial zu Simenons Vorlage. Unterschiedlich gestaltet sich jedoch Maigrets Verhältnis zu Comèliau in der Fernsehadation. Rupert Davies’ Maigret kann “diesen schrulligen, alten Burschen gut leiden”, obwohl er ihn des öfteren enervierend findet. Maigrets übertriebene Höflichkeit, die der Untersuchungsrichter in seiner Beschränktheit nicht bemerkt, macht deutlich, wie wenig der Kommissar den Untersuchungsrichter ernst nimmt. Im Roman verachtet Maigret Comèliau für seine Vorurteile, für seine Geltungssucht sowie für sein nicht vorhandenes Einfühlungsvermögen in die Schicksale seiner Mitmenschen.
Drehbuchautor Roger East hat sich bei Georges Simenons literarischer Vorlage ausgiebig bedient, diese jedoch sehr frei neu gestaltet.
Die gravierendeste Änderung besteht darin, dass dem Zuschauer der Fernsehadaption ein anderer Täter präsentiert wird als dem Leser des Romans, was dem Geschehen eine interessante Wendung gibt und es eben nicht zu dem “einfachen Fall” macht, wie der bornierte Untersuchungsrichter Comèliau von Beginn an großspurig daher schwafelt. Die Fernsehauflösung ist psychologisch absolut stimmig und nachvollziehbar und setzt einen ergreifenden Schlusspunkt unter ein verhängnisvoll endendes Familiendrama.
Erstmals benannte man eine der Hauptfiguren um: aus dem Lagerverwalter Dieudonné Pape wurde der Fernfahrer Dominic Père.
Auch die Beziehungen der handelnden Personen wurden verändert. Vermutlich wollte man damals die Zuschauer nicht dadurch empören, dass man Aline Calas’ - deren Promiskuität im Roman weitaus offener thematisiert wird - ehebrecherische Aktivitäten mit Dominic Père noch um die mit dem weitaus jüngeren Wäschereikurier Antoine Cristin erweiterte und machte ihn daher zum hingebungsvollen Verehrer von Lucette Calas. Besonders ironisch gestaltet sich daher das Gespräch zwischen Maigret und Comèliau im Film, in dem der Kommissar einen bestimmten Verdacht des Untersuchungsrichters dadurch entkräftet, dass Antoine nicht Alines Liebhaber ist, was er im Roman hingegen sehr wohl ist. Noch befremdlicher wirkt es, dass der tatsächliche Täter, der in der literarischen Vorlage eisernes Schweigen bewahrt, den Mord in der Filmversion gesteht, was sich jedoch als Ablenkungsmanöver zum Schutz einer anderen Person herausstellt.
Inspektor Lapointe, der seinen Chef im Roman bei einem Großteil von dessen Ermittlungen unterstützt, tritt in der Fernsehfassung überhaupt nicht in Erscheinung und wird statt dessen von Torrence vertreten, der wiederum in der literarischen Vorlage nicht auftritt.
Die amüsante Szene, in der Maigret geistesabwesend sein Abendessen hinunterschlingt, weil er noch immer über seinem Fall grübelt und ihn seine Frau deshalb liebevoll neckt, hätte wieder für wunderbare Momente in dem so überaus gelungenen Zusammenspiel von Rupert Davies und Helen Shingler gesorgt. Leider fand die Szene keine Berücksichtigung für den Film.
Einige Personen der literarischen Vorlage treten in der Fernsehfassung nicht selbst in Erscheinung wie etwa der Notar Canonge, der Maigret im Roman die entscheidenden Hinweise zur Lösung des Falles liefert, was im Film durch den Journalisten Bourgain geschieht, sowie Inspektor Judel vom 10. Arondissement, während Professor Lavaud im Film im Gegensatz zum Roman persönlich in das Geschehen eingreift.
Das größte Versäumnis des Drehbuchautors besteht in der Auslassung von Aline Calas’ Katze, um die sich der Kommissar im Roman auf rührende Weise kümmert, nachdem ihre Besitzerin im Untersuchungsgefängnis Quartier nehmen musste.
Statt dessen veränderte Roger East den “Vicomte”, einen zu Romanbeginn lediglich kurz auftretenden, stutzerhaft gekleideten Provinzjournalisten in den Reporter Bourgain, der nicht nur durch seine ausgefallene Garderobe sowie sein snobistisches Verhalten auffällt, sondern für den Fortgang der Handlung eine wichtige aber alles andere als ehrenhafte Rolle spielt.
Maigrets ausgedehntes Verhör von Antoine Cristin ist eine großartige Szene, zu der es wiederum im Roman keine Entsprechung gibt. Mit väterlicher Güte - der Kommissar streicht dem jungen Mann dabei sogar einmal sanft übers Haar - aber zugleich hartnäckig befragt er den Verdächtigen und untersucht dabei - ganz in der Tradition eines Sherlock Holmes - die Besonderheiten des Raumes, in dem sie sich befinden und bei dem es sich um den Tatort handelt.
Faith Brook (1922 - 2012) verkörpert Aline Calas als eine Frau von verblühender Schönheit und großer Selbstsicherheit, die durch die Schicksalsschläge ihres Lebens zur Alkoholikerin wurde. Im Roman ist Maigret weitaus faszinierter von ihr als im Film und ist fast ausschließlich an ihren Lebensumständen interessiert, während er von nahezu alle anderen Fakten zum Fall lediglich gelangweilt wird. Der Kommissar bleibt sogar bewusst ihrem entscheidenden Verhör, dass die Wahrheit zutage fördert, fern, da er Madame Calas gegenüber Skrupel verspürt. In der Fernsehfassung ist Maigret gleichwohl vom Schicksal der Frau betroffen, die in einer emotionalen Stresssituation sogar gegen den Kommissar handgreiflich wird, doch hat er keinerlei Bedenken, sie zu vernehmen.
George Baker (1931 - 2011), dessen Rolle als nachlässig gekleideter, unrasierter Fernfahrer einen interessanten Kontrast zu den häufigen allzu glatten Heldenfiguren seiner Karriere bildet. Baker erwarb sich in seiner Heimat Großbritannien eine immense Popularität durch seine von 1987 bis 2000 dauernde kongeniale Verkörperung eines anderen berühmten literarischen Detektivs: der von Ruth Rendell erfundene und mit Kommissar Maigret in mehrfacher Hinsicht wesensverwandte Detective Chiefinspector Reginald Wexford aus der idyllischen Gemeinde Kingsmarkham in Sussex.
Jenifer Daniel (Jahrgang 1936) ist den Zuschauern aus einigen klassischen Hammer-Horrorfilmen wie “The Kiss of the Vampire” (“Der Kuss des Vampirs”) (1963) und "The Reptile" (“Das schwarze Reptil”) (1966) bekannt.
Zitat von Cora Ann Milton im Beitrag #144Drehbuchautor Roger East hat sich bei Georges Simenons literarischer Vorlage ausgiebig bedient, diese jedoch sehr frei neu gestaltet. Die gravierendste Änderung besteht darin, dass dem Zuschauer der Fernsehadaption ein anderer Täter präsentiert wird als dem Leser des Romans ...
Ich schätze, das kommt mindestens noch einmal mehr vor, dass in der TV-Version dieser Serie ein anderer Täter präsentiert wird als in der entsprechenden Romanvorlage. Zum Beispiel auch in "Maigret und das Geheimnis im Schloss". Soll für fleißige Leser wohl eine Überraschung sein. Außerdem wird die gehörige Portion Kreativität so sichtbar beim Schreiben der TV-Adaptation.
Es kann sein, dass manche Abänderungen von Simenon selber stammen. Die Drehbücher der ersten Staffel hat er sich vor Produktionsbeginn genauer angesehen und sicherlich hier und dort Anmerkungen oder Änderungen gemacht. Das englische Wikipedia behauptet sogar, die ersten 12 Scripts seien von Simenon selber verfasst worden. Das ist sicher übertrieben.
Der Autor hatte aber - zumindest am Anfang - ein ganz besonderes Augenmerk auf die Gestaltung der Serie. Aus der ersten Staffel hat er sich zwei Folgen zeigen lassen, als Rupert Davies ihn nochmal in der Schweiz besuchte. Von der Titelsequenz war er besonders angetan. In einem Fernsehbericht über Simenon wurde dazu ein Foto eingeblendet, auf dem der Schauspieler dem Schriftsteller vor einer Ziegelsteinwand demonstriert, wie man am besten an der Wand ein Streichholz anreißt. Dabei führt Davies Simenons Hand, die das Streichholz hält. Bestimmt kann man dieses Publicity-Foto im Simenon-Archiv finden.
Mehr als zwei Episoden hat Simenon wohl nie gesehen. Auch Folgen anderer Maigret-Serien hat er sich entweder gar nicht oder nur ausnahmsweise mal angesehen. Er wollte sich von Filmversionen in seiner ureigenen Vorstellung über Maigret nicht beeinflussen lassen.
Für Deine bildlichen und textlichen Ausführungen zu Film und Buch "Maigret und der Kopflose", liebe Cora Ann, meinen herzlichen Dank.
“Maigret trifft einen Schulfreund” (“Deatch of a Butcher”)
Regie: Andrew Osborne
Drehbuch: Giles Cooper
Darsteller: Rupert Davies (Kommissar Jules Maigret), Helen Shingler (Madame Maigret). Ewen Solon (Lucas), Neville Jason (Lapointe), Noel Howlett (Comèliau), Eric Pohlmann (Ferdinand Fumal), Pauline Letts (Jeanne Fumal), Carl Duering (Victor Ricou), Anthony Jacobs (Emanuel Joseph), Gwen Cherell (Louise Bourges), Derek Benfield (Émile Courbet), Sheila Robins (Martine Gilloux), David Courtney (Felix)
Literarische Vorlage: “Un èchec de Maigret” (“Maigret erlebt eine Niederlage”) von Georges Simenon
Der folgende Beitrag enthält Spoiler.
“Ich habe sehr viele gute Beziehungen, Kommissar Maigret. Seien Sie mir gegenüber nicht allzu unfreundlich.” (Fumal) “Ich hoffe, ich muss es nicht werden.” (Maigret)
“Lapointe, du überwachst ab sofort Fumals Haus. Hier ist seine Adresse.” (Maigret) “Worauf soll ich besonders achten?” (Lapointe) “Dass kein Hund in seinen Briefkasten pinkelt.” (Lucas)
“Ich werde bedroht.” (Fumal) “Höchstens von meinem Stiefel.” (Maigret)
“Sie sollten allmählich einsehen, dass es ein paar Dinge im Leben gibt, die man nicht kaufen kann.” (Maigret zu Fumal)
“Lapointe, du kannst aufhören, die falschen Türen zu bewachen.” (Maigret)
“Und wer hat ein Motiv?” (Lucas) “Bis jetzt jeder.” (Maigret)
“Ihr Mann ist ermordet worden. Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe?” (Maigret) “So ein Mensch musste ja umgebracht werden.” (Madame Fumal)
“Ich verbiete Ihnen, da reinzugehen. Das ist mein Bad.” (Madame Fumal) “Aber warum denn? Sie sitzen ja nicht drin.” (Maigret)
“Der Mörder stand hinter Fumal. Nur einem Menschen, den man sehr gut kennt, dreht man den Rücken zu, wenn man so viel Angst hat wie er.” (Maigret)
“Inspektor Lucas, ich werde mich wegen der Behandlung, die man mir hier zuteil werden lässt, bei Ihrem Vorgesetzten beschweren. (Joseph) “Warten Sie mal, bis heute Nachmittag die Leute vom Finanzamt kommen. Da können Sie erst was erleben.” (Lucas)
“Ist sie betrunken?” (Comèliau) “Der Alkohol ist wohl das Einzige, was sie noch am Leben hält.” (Lucas)
“Jules, ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich. Jede Nacht schläfst du nur ein paar Stunden.” (Madame Maigret) “Dieser Fall lässt mir einfach keine Ruhe.” (Maigret)
“Er war ein eitler, machthungriger Bursche, der alle nur gequält hat.” (Maigret) “Irgendwie tut er mir trotzdem leid. Von all seinem Geld, dem schönen Haus, dem Schloss in Saint-Fiacre hat er doch im Grunde gar nichts gehabt.” (Madame Maigret) “Nein. Kein Mensch ist von Natur aus schlecht. Aber warum ist er so geworden?” (Maigret)
Kommissar Jules Maigret ist mit den Untersuchungen im Fall der spurlos verschwundenen englischen Touristin Mrs. Britt beschäftigt, als ihn Untersuchungsrichter Comèliau im Auftrag des Justizministers ersucht, sich eines ernsten Anliegens des Fleischgroßhändlers Fumal anzunehmen, der seit einer Woche Drohbriefe erhält, in denen ihm seine Ermordung angekündigt wird. Ferdinand Fumal besuchte einst die selbe Lehranstalt wie Kommissar Maigret. Ihn deshalb seinen Schulfreund zu nennen, spricht diesem Wort jedoch Hohn, denn die beiden völlig gegensätzlichen Männer verbindet eine gegenseitige Aversion. Diese datiert bereits aus Maigrets Kindheit, als dieser damals miterleben musste, wie Fumals Vater, der ortsansässige Metzger, vergeblich versuchte, Maigrets Vater, den Schlossverwalter von Saint-Fiacre, zu bestechen. Maigret sagt Fumal auf den Kopf zu, dass dieser die Drohbriefe selbst geschrieben hat, was dieser nach heftigem Widerstreben auch zugibt. Dennoch beteuert der Unternehmer, er habe Angst um sein Leben, was der Kommissar nicht allzu ernst nimmt. Ein Irrtum, wie sich kurz darauf herausstellt, als man Fumal erschossen in seiner Villa auffindet.
Der Unternehmer war ein mit seinem erworbenen Reichtum protzender, tyrannischer und feiger Parvenü, der nicht nur in einer Villa in Paris sondern mittlerweile auch im Schloss von Saint-Fiacre residierte. Er umgab sich ausschließlich mit Menschen, die vollständig von ihm abhängig waren. Zu seinen Lebzeiten machte er sich bei nahezu allen verhasst, mit denen er zu tun hatte, so dass die Zahl der Verdächtigen beträchtlich ist.
Der Makler Roger Gaillardin, der Fumal die Schuld an seinem finanziellen Ruin gibt, erschießt sich aufgrund der Ausweglosigkeit seiner Situation. Obwohl er den Ermordeten als letzter besuchte, kann er ihn vor seinem Suizid nicht getötet haben, denn die Mordwaffe hat ein anderes Kaliber als Gaillardins Pistole. Jeanne Fumal hat sich aus ihrer hoffnungslos zerrütteten Ehe in die Hypochondrie und in den Alkohol geflüchtet. Ihr Bruder Émile Courbet, nach den Worten Maigrets “ein pathologischer Säufer”, entwendete regelmäßig kleinere Geldbeträge aus der Portokasse seines Schwagers. Fumals Finanzberater Emanuel Joseph hatte einst eine Unterschlagung aus dem Vermögen seines Klienten begangen. Doch weil Fumal, statt ihn den Behörden zu übergeben, sich lieber das zweifelhafte Vergnügen gestattete, Joseph des öfteren auf demütigende Weise an dessen damalige Verfehlung zu erinnern, blieb dieser auf freiem Fuß. Victor Ricou, der wie Kommissar Maigret und Fumal aus Saint-Fiacre stammt, hat vor Jahren einen Förster erschossen, als dieser ihn beim Wildern ertappte. Fumal besorgte ihm einen kompetenten Anwalt, der Ricou vor dem Gefängnis bewahrte und stellte anschließend den ihm dadurch verpflichteten Mann als Kammerdiener ein. Fumals Privatsekretärin Louise Bourges ist in dessen Chauffeur Felix verliebt. Um sich ihren Traum von einem gemeinsamen Gasthof in ihrer Heimatstadt Limoges verwirklichen zu können, haben die Beiden trotz täglicher Schikanen durch ihren Arbeitgeber ihre Stellung noch nicht gekündigt. Außerdem benutzt Mademoiselle Bourges ihre Position, um durch den Verrat von Firmengeheimnissen an die Konkurrenz weitere finanzielle Vergünstigungen zu erhalten.
Während sich die Suche nach Mrs. Britt erfolgreich gestaltet - die Dame sitzt wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses im Gefängnis - raubt der Mordfall Fumal Kommissar Maigret den Schlaf, denn er grübelt über die entscheidende Frage, welcher der zahlreichen Verdächtigen den Unternehmer am meisten verabscheute und ihn deshalb erschoss.
Anmerkungen:
Zitat “Wenn jemand in Paris im Laufe der Zeit die brutale Wirklichkeit kennengelernt hatte, wenn jemand Tag für Tag damit beschäftigt war, auch die verborgenste Wahrheit hinter der äußeren Fassade zu entdecken, dann war er es. Und trotzdem hatte er nie ganz aufgehört, an gewisse Vorstellungen seiner Kindheit und Jugend zu glauben. Hatte er nicht einmal gesagt, er möchte gern dem Schicksal “nachhelfen”? So sehr hatte er sich gewünscht, die Menschen auf ihren richtigen Platz zu führen.”
“ ... der ehemalige Metzger aus Saint-Fiacre war in diesem Hause mit der Deckentäfelung und den Möbeln, die in einer längst vergangenen Zeit gekauft worden sein mussten, ebenso fehl am Platze wie die beiden Marmorstatuen, die im Flur standen.”
“Was den Kommissar vielleicht am meisten verwirrte, war die Bosheit, die er in Fumals Taten und Gesten erriet. Er hatte sich immer geweigert, zu glauben, dass ein Mensch von Grund auf böse sein könne.”
(Georges Simeon: “Maigret erlebt eine Niederlage”)
“Maigret trifft einen Schulfreund” ist für den Kommissar eine Wiederbegegnung mit seiner Vergangenheit, als er als Sohn des Schlossverwalters von Saint-Fiacre nahe der Stadt Moulins im Département Allier in der Auvergne aufwuchs. Dort findet auch - in freier Wildbahn und einem Western nicht unähnlich - der dramatische Showdown statt.
Giles Coopers Straffungen und Veränderungen gegenüber Simenons Roman wirken sich positiv auf die Episode aus. Die finale Konfrontation von Maigret, Lucas und Lapointe mit dem Täter - übrigens die erste ausgedehnte Außenaufnahme der Serie - gestaltet sich bei weitem spannender und dramatischer als das literarische Ende. Dass Mrs. Britt, die auf mysteriöse Weise verschwundene Engländerin, in einem Gefängnis einsitzt - wer würde die unbescholtene Touristin dort vermuten - während Maigret und seine Mitarbeiter fieberhaft nach ihr fahnden, ist ein gelungener Scherz, während Simenons Erklärung für ihre Abwesenheit nur unzureichend und daher etwas enttäuschend ausfällt. Im Gegensatz zum Roman tritt der allseits unbeliebte Untersuchungsrichter Comèliau, dessen Bekanntschaft der Zuschauer in “Maigret und der Kopflose” machte, erneut in Erscheinung, hält sich aber dieses Mal erfreulicherweise im Hintergrund statt Kommissar Maigret mit unpassenden Anweisungen und ungefragten Ratschlägen zu enervieren. Torrence hat einen kurzen Auftritt im Roman, in der Fernsehfassung telefoniert Kommissar Maigret hingegen lediglich mit ihm. Durch die Abwesenheit von Torrence ist Lucas für gelegentliche heitere Bemerkungen zuständig, wobei auch Maigrets Ausnüchterung des in der Badewanne liegenden Émile Courbet durch eine kalte Dusche für amüsante Momente sorgt. Der liebenswürdige Lapointe - “Sie sind ein netter Bursche, und sowas ist bei der Polizei” bedauert Madame Fumal - erweitert seine privaten Neigungen um die Lektüre von Filmillustrierten. In dieser Szene ist der deutschen Synchronisation übrigens ein kleiner Fauxpas unterlaufen. Maigret rügt seinen Mitarbeiter, weil dieser sein Magazin im Dienst liest und duzt ihn wie gewöhnlich. Als der Kommissar Lapointe das Heft zurückgibt, geht er plötzlich zum Sie über.
Der Romantitel “Maigret erlebt eine Niederlage” resultiert aus der vergeblichen Suche nach Mrs. Britt, die einige Jahre später ebenso plötzlich wieder auftaucht wie sie verschwand sowie aus der ebenso erfolglosen Fahndung nach Fumals Mörder, der durch reinen Zufall geraume Zeit später der Polizei ins Netz geht, aber aufgrund einer Erkrankung bereits verstirbt, bevor man ihn anklagen kann. Da beides in der Fernsehadaption grundlegend verändert wurde, ist deren deutscher Titel natürlich adäquater.
Besonders erfreulich an “Maigret trifft einen Schulfreund” ist das Wiedersehen mit Madame Maigret. Die Ärmste leidet dieses Mal unter Zahnschmerzen und erhält liebevollen Zuspruch durch ihren Gatten. Während Maigret um drei Uhr nachts mit zerzauster Haarmähne und schief hängender Krawatte über seinem Fall grübelt, ist wiederum sie es, die zärtlich um ihn besorgt ist. Eine dabei von ihr geäußerte Bemerkung führt sogar dazu, dass sich für ihren Mann die Puzzlestücke des Falles zusammenfügen und ihn zum Täter führen.
Eric Pohlmann (1913 - 1979) - unter anderem berühmt für seine markanten Auftritte als Gangsterboss Kerkie Minelli in dem Edgar-Wallace-Film “Das Rätsel der roten Orchidee” (1962) sowie als dämonischer Conte Fosco in der dreiteiligen Wilkie-Collins-Adaption “Die Frau in Weiß” (1970) - glänzt auch in seiner Rolle als Ferdinand Fumal: ein widerwärtiger Emporkömmling, der seine Minderwertigkeitskomplexe durch materiellen Wohlstand und Tyrannei gegen seine Mitmenschen zu kaschieren versucht. Im Grunde ist Fumal stets der kleine, allseits verachtete Metzger aus Saint-Fiacre geblieben. Es ist bezeichnend, dass lediglich seine von ihm ausgehaltene Geliebte Martine Gilloux einige Worte des Verständnisses für ihn findet. Fumal ist zudem ganz der Sohn seines Vaters, denn wie dieser glaubt er, mit Geld alles kaufen zu können. Unfähig, echte emotionale Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, umgibt er sich mit Lakaien statt mit Freunden und drangsaliert sie nach Herzenslust. Sein gewaltsam herbeigeführter Tod erscheint daher fast schon zwangsläufig.
Ein besonderes Lob gebührt dem Szenenbildner für die überaus liebevoll detaillierte Ausstattung dieser Episode, in der unter anderem Fumals Villa kongenial zum Roman gestaltet wurde - im Hintergrund der Eingangshalle sieht man sogar eine der von Simenon erwähnten beiden Marmorstatuen.
Zitat von Cora Ann Milton im Beitrag #146Ein besonderes Lob gebührt dem Szenenbildner für die überaus liebevoll detaillierte Ausstattung dieser Episode, in der unter anderem Fumals Villa kongenial zum Roman gestaltet wurde - im Hintergrund der Eingangshalle sieht man sogar eine der von Simenon erwähnten beiden Marmorstatuen.
Szenenbildnerin ("production designer") für die Maigret-Serie war Eileen Diss. Mit 29 bekam sie ihre erste große Aufgabe bei der BBC: In "Maigret" durfte dekorativ nichts typisch Englisches mit ins Bild kommen, alle Hintergrunddetails mussten als französisch identifizierbar sein. Wenn sich das Filmteam für Außenaufnahmen in Paris aufhielt, war Eileen Diss oft mit dabei, und zwar um Utensilien ausfindig zu machen, die sie für die Dekoration der BBC-Studio-Innenaufnahmen gebrauchen konnte, z. B. für das Büro von Maigret und das seiner Inspektoren und vor allem für die ständig wechselnden Wohnungseinrichtungen der im jeweiligen Fall vorkommenden Personen. Größere Sachen wie typisch französische Möbel, Gardinen, Teppiche, Tapeten, Lampenschirme u. a. wurden verschifft, aber in ihrem Reisegepäck hatte Eileen Diss, wenn sie nach London zurückkehrte, manchmal auch noch französische Ausstattungsstücke mit dabei, z. B. Türknaufe. Es durfte einfach nicht sein, dass Maigrets Gesicht groß im Bild war nebst einem eindeutig englischen Türknauf im Hintergrund, wenn auch bloß unscharf.
Die Wohnungseinrichtungen in "Maigret" wurden außerordentlich umfangreich angelegt. In etlichen Folgen kommt es vor, dass Maigret oder Lucas eine Wohnung aus mehreren Zimmern durchschreitet und durchstöbert und dabei vielleicht nach etwas Bestimmtem oder auch Unbestimmtem sucht. Dabei werden Zwischentüren durchgangen. Der Gesichtsausdruck und die Gangart sind im Übergang von einem ins andere Zimmer bei verschiedenen räumlichen Kameraeinstellungen exakt die gleichen, woraus man erkennen kann, dass die Zimmer tatsächlich nebeneinander liegen und nicht nur szenisch zusammengebaut sind. In solchen Momenten spielt die ausgiebige französische Dekoration die Hauptrolle. Eileen Diss war für deren Stimmigkeit verantwortlich. Nach "Maigret" hat sie jahrzehntelang unzähliche weitere Fernsehserien und Einzelfilme ausgestattet und wurde mehrfach dafür ausgezeichnet.
Vielen Dank, liebe Cora Ann, für Deinen wieder sehr ins Detail gehenden Beitrag zu "Maigret: Death of a Butcher". Damit - zusammen mit all Deinen übrigen bisherigen Maigret-Beiträgen - hast Du Dir auch eine Auszeichnung verdient: "New BBC Maigret Fan of the Year 2015".
Sehr interessante Ausführungen über die Requisite, Bertram. In der Tat trägt das auch dazu bei, dass man beim Sehen nie den Eindruck hat, eine britische Produktion vor Augen zu haben. Immer wieder kommt man sich wie in Frankreich vor und muss sich am Riemen reißen, dass das ja in den Londoner Studios mit Briten gedreht wurde.
Zitat von Berthold Deutschmann im Beitrag #147Dabei werden Zwischentüren durchgangen. Der Gesichtsausdruck und die Gangart sind im Übergang von einem ins andere Zimmer bei verschiedenen räumlichen Kameraeinstellungen exakt die gleichen, woraus man erkennen kann, dass die Zimmer tatsächlich nebeneinander liegen und nicht nur szenisch zusammengebaut sind.
Das liegt daran, dass die Episoden, wie damals üblich, zuerst geprobt und dann chronologisch in der Studiodekoration mit mehreren Kameras aufgezeichnet wurden, so wie das etwa heute noch bei Fernsehsendungen wie Shows und der gleichen der Fall ist. Der Regisseur saß in diesem Moment nicht mehr im Sessel vor den Darstellern und schrie "Action", sondern im MAZ-Raum, wo er vor mehreren Bildschirmen saß und mit dem "Visionmixer" bestimmte, welches Kamerabild aufgezeichnet wurde. Die Aufzeichnung einer Episode dauerte nach intensiver Vorarbeit durch Proben und erneute Proben dann letztlich nur mehr maximal 2 Stunden, wobei die Filmaufnahmen (Außendrehs) eingespielt wurden. Von daher kann es auch keine Anschlussfehler geben.
Kann es sein das mich Maigret in einigen Folgen auch stark an meine deutsche Lieblingsserie "Der Kommissar " erinnert ? Ob jetzt die Anarchisten oder der Schatten am Fenster oft ist die Grundstimmung depressiv , die Umgebung /Verhältnisse armselig ( Hinterhof /Treppenhaus /Lebensverhältnise /gescheiterte Menschen )verhärmte (alte) Frauen und Männer ,Jugend die orientierungslos ist usw. Diese Art in Krimis auch eine Art Milieustudie einzubauen ohne das es aufgesetzt und zu "gewollt" wirkt ist eine der großen Stärken dieser Serien.
Es ist aber nicht nur das "Schwarze Dreieck", auch andere Folgen von "Der Kommissar" könnte man sicherlich in Verbindung bringen mit der BBC-Maigret-Serie.