Sherlock (Sherlock: Case of Evil)
TV-Kriminalfilm, USA 2002. Regie: Graham Theakston. Drehbuch: Piers Ashworth (frei nach Sir Arthur Conan Doyle). Mit: James D’Arcy (Sherlock Holmes), Roger Morlidge (Dr. Watson), Gabrielle Anwar (Rebecca Doyle), Vincent D’Onofrio (Professor Moriarty), Nicholas Gecks (Inspektor Lestrade), Peter-Hugo Daly (Henry Coot), Richard E. Grant (Mycroft Holmes), Struan Rodger (Ben Harrington), Fritha Goodey (Anna), Stefan Veronca (junger Sherlock Holmes) u.a. Erstsendung (USA): 25. Oktober 2002. Eine Produktion von Box TV und USA Network.
Zitat von Sherlock
Bei einer Verfolgungsjagd tötet der junge Sherlock Holmes den Verbrecherkönig Professor Moriarty. Dessen Leichnam kann jedoch nie gefunden werden. Für seine Tat wird Holmes in der Presse gefeiert und lernt Dr. Watson kennen, mit dem er sich weiter dem Kampf gegen das Verbrechen widmet. Gemeinsam untersuchen sie eine Reihe an Morden an Untergrundgrößen, die mit dem Londoner Drogenhandel in Verbindung standen. Nun hat Holmes erneut Moriarty im Verdacht. Ist dieser womöglich doch nicht tot?
Sherlock ... die Legende beginnt hier, titelt der Teaser zum Film und tatsächlich wirft die Box-TV-Produktion aus dem Jahr 2002 einen alternativen Blick auf die Anfänge von Holmes’ Ruhm und seiner Freundschaft mit Dr. Watson. Sherlock, der in dieser Produktion trotz viktorianischen Settings leider mehrfach mit seinem Vornamen angesprochen wird, erwirbt sich eine Reputation durch den Mord an Professor Moriarty, dem größten Verbrecher Englands, nach dem die ganze Polizei verzweifelt sucht. Die Geschichte zeigt Sherlocks selbst initiierte Schlagzeilen nach diesem Clou, was seiner im Kanon Ausdruck verliehenen Ansicht entspricht, Bescheidenheit sei ebenso falsch wie Überheblichkeit. James D’Arcy, dem ich in anderen Auftritten äußerst skeptisch gegenüberstand, überzeugt als Sherlock überraschenderweise recht umfassend, gab ihm diese Rolle doch abermals die Möglichkeit, ein stückweit „das innere Ekelpaket herauszukehren“, dem Zuschauer allerdings gleichzeitig die Pflicht, ihm dies nachzusehen.
Der Watson an D’Arcys Seite ist Roger Morlidge. Ähnelt er äußerlich eher einem Fleischer, so ist dies durchaus berechtigt, denn der Drehbuchautor machte aus dem eigentlich aus Afghanistan zurückgekehrten Armeearzt einen Gerichtsmediziner, dessen Berufsausübung für einen Großteil der übermäßig offensichtlich eingesetzten Schockeffekte des Films sorgt (die Autopsien, das Zersägen von Knochen sowie das Entnehmen und Aufschneiden der Gehirne der Opfer). Die beiden Darsteller entwickeln in einer gegenüber den Doyle-Geschichten gänzlich umgeschriebenen Kennenlernphase eine angenehme Interaktion, ohne allerdings zu sehr aneinanderzukleben oder ihre charakterliche Eigenständigkeit zu verlieren.
Natürlich stirbt Moriarty nicht gleich wirklich am Anfang – und damit setzt sich eine mit Leichen und Drogen gespickte Story in Gang, die durchaus eines Sherlock Holmes würdig ist und diesem Spielraum bietet, seine Deduktionen auf eindrucksvolle Weise auszuführen. Moriartys beide Ableben im Film sind dem „letzten Problem“ von Sir Arthur Conan Doyle nachempfunden. Wie auch in den Basil-Rathbone-Filmen schien man sich hier einen Spaß daraus zu machen, Moriarty aus allen möglichen Höhen zu Tode stürzen zu lassen. Leider übernahm man auch eine weitere Geläufigkeit aus anderen filmischen Holmes-Umsetzungen, nämlich die, Holmes’ Seite als Frauenheld ein wenig zu sehr auszuschmücken. Wohl in der Absicht, die Männerfreundschaft mit dem guten Doktor nicht allzu fragwürdig aussehen zu lassen, gab man Holmes diverse Liebhaberinnen (ja ja, der schnelle Ruhm) sowie eine wirkliche Flamme an die Hand, deren Rolle zugegebenermaßen allerdings weit mehr tut, als nur am Ende für einen dramatischen Höhepunkt zu sorgen.
Auch in puncto „period setting“ hätte man etwas akkurater sein können: David Stuart Davies führt in seiner Besprechung dieser Verfilmung völlig richtig an, dass Begriffe wie „serial killer“ oder „autopsy“ im 19. Jahrhundert noch gar nicht existierten; ich füge diesem Fakt das äußerst unviktorianische Handeln und Auftreten einiger Figuren hinzu, das sogar eine Gruppensexszene umfasst.
Diesen scheinbar frustierenden Punkten sind allerdings viele positive Aspekte entgegenzusetzen, die „Sherlock“ am Ende doch zu einem lohnenswerten Abenteuer machen. Einer der wichtigsten ist das Auftreten des Mycroft Holmes in Gestalt von Richard E. Grant. Der bereits als Stapleton aus der 2001er-BBC-Verfilmung „The Hound of the Baskervilles“ bekannte Schauspieler glänzt hier einmal mehr mit einer ausdrucksstarken und ergreifenden Leistung als ein von einer ganz anderen Seite, nämlich als Krüppel, porträtierter Denker. Die Macher erlaubten sich, jene beeindruckende Szene aus dem „griechischen Dolmetscher“ zu verwenden, in der die Holmes-Brüder am Fenster sitzen und zu Watsons Erstaunen die Lebensgeschichten und ‑umstände der vorbeigehenden Passanten erschließen.
Zufrieden stellen auch die Außenaufnahmen. Wer nicht weiß, dass die Produktion in Rumänien aufgenommen wurde, der wird sich tatsächlich im damaligen London wähnen, denn neben einigen ansprechend hergerichteten Straßenzügen sorgen vor allem die mit moderner Computertechnik mehr oder minder dezent eingefügten Wahrzeichen der Themse-Metropole für die richtige Stimmung. Diese kulminiert in den fast schon protzenden Finalszenen: Die erste der beiden ist (zu meiner persönlichen Freude) zumindest theoretisch in den unter Konstruktion befindlichen Tunneln der von der Metropolitan District Railway Company errichteten U‑Bahn angesiedelt. Birgt dies zwar den inhaltlichen Fauxpas, dass dieser Umstand den Film notwendigerweise ins Jahr 1867/68 verlagert (zu diesem Zeitpunkt wäre Holmes laut diverser Studien 13 Jahre alt gewesen), so entschädigt es mit einer Portion Lokalkolorit und Zeitgeist, die nur noch von der folgenden Szene im Inneren des Clock Tower der Houses of Parliament getoppt wird. Das ist zwar unrealistisch, aber zugleich auch unglaublich befriedigend für Nostalgiker!
Für einen positiven Eindruck sorgt nicht zuletzt auch die abschließende Einstellung des Films, die einen amüsanten Erklärungsversuch dafür zu bieten versucht, wie Sherlock Holmes zu seinem Ikonenbild mit Deerstalker und Pfeife gekommen ist.
Insgesamt kann man „Sherlock“ durchaus nicht als makellosen Erfolg bezeichnen, doch ein unterhaltsamer und qualitativ ansprechender Anlauf an die Thematik eines jungen Sherlock Holmes ist der Film allemal. James D’Arcy überrascht auf positive Weise, das Script schüttelt und mixt, was das Zeug hält, und London lebt und brodelt. Und mit dieser Metropole auch die Legende um Sherlock Holmes. 3,5 von 5 Punkten.