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Dieses Thema hat 582 Antworten
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 Film- und Fernsehklassiker international
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Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

09.06.2015 21:15
#196 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten



House on Telegraph Hill

Melodram, USA 1951. Regie: Robert Wise. Drehbuch: Elick Moll, Frank Partos (Buchvorlage „House on Telegraph Hill / The Frightened Child“: Dana Lyon). Mit: Richard Basehart (Alan Spender), Valentina Cortesa (Victoria Kowelska), William Lundigan (Major Marc Bennett), Fay Baker (Margaret), Gordon Gebert (Christopher), Steven Geray (Dr. Burkhardt), Herbert Butterfield (Joseph C. Callahan), Kei Thin Chung (Kei, Diener), John Burton (Mr. Whitmore), Katherine Meskill (Mrs. Whitmore) u.a. Uraufführung (USA): 12. Mai 1951. Eine Produktion von Twentieth Century Fox.

Zitat von House on Telegraph Hill
Die dunkelsten Jahre ihres Lebens in einem deutschen Konzentrationslager glaubt Polin Victoria Kowelska hinter sich zu lassen, als sie unter der Identität einer verstorbenen Freundin in die USA ausreist, um dort nach deren Kind zu suchen. Sie findet den Jungen und in dessen Vormund Alan Spender zugleich einen Ehemann. Alles könnte so schön sein – wenn nicht ein düsteres Geheimnis den Spender-Haushalt überschatten würde. Victoria erkennt bald, dass von ihrem Ehemann Gefahr ausgeht ...


Im Grunde unterscheidet nur die Länge der Vorgeschichte „House on Telegraph Hill“ von bekannten Böse-Ehemänner-Storys wie „Gaslight“, „Rebecca“ oder „Sleep, My Love“. Die in den genannten Produktionen recht gut funktionierende Unterwürfigkeit der Frau wird in dieser Version insofern auf die Probe gestellt, als Victoria Kowelska dem Zuschauer zunächst als moderne, Initiative ergreifende und, falls nötig, auch kühl abwägende Person gezeigt wird, von der man meint, dass sie gerade vor dem Hintergrund ihrer bitteren Kriegserfahrungen ihrem Gatten und dem langjährigen Kindermädchen besser Paroli bieten könne. Ihr Tatendrang scheint sich jedoch mit dem Erreichen der ersten Ziele – einem scheinbar guten Leben in den USA und dem (Wieder-)Finden des Kindes – erledigt zu haben; die Figur, der man in der zweiten Hälfte des Films begegnet, ist schwächer als die, die man zunächst kennenlernte.

Mit dieser Zweiteilung ist auch die weitgehende Harmlosigkeit des Thrillers verbunden, der sich lieber gesellschaftlichen Fragen annimmt, als Spannungshöhepunkte zu setzen. Inwiefern ist Victorias Position gerechtfertigt? Vedient sie als Betrügerin ein Happy End? Stellt ihr ihr Leiden im Konzentrationslager gegenüber dem Publikum einen Blankoschein für zukünftiges Verhalten aus? Stecken hinter dem amerikanischen Lebenstraum häufiger Mord und Schwindel, als es die gesittete, gutbürgerliche Fassade vermuten lässt? Banden sich auch nach dem Krieg die Menschen noch eher aus Zweck und Berechnung als aus Liebe? Und wie wurde mit den Entlassenen aus KZs und Kriegsgefangenschaft umgegangen? Um die Bemühungen der Vereinten Nationen bezüglich dieser Personen zu verbildlichen, erklärte sich die Produktion bereit, hierzu auf dokumentarisches Material zurückzugreifen:

Zitat von AFI Catalog: „House on Telegraph Hill“ at Turner Classic Movies, Quelle
Footage of displaced persons boarding an International Refugee Organization ship was included in the film at the request of the United Nations as a public service for „making the world conscious of the United Nations and its activities,“ according to a letter in the studio files.


Bei derlei bedeutungsschwangeren Anliegen werden kleinere Makel wie der in Major Marc Bennett etwas unglaubwürdig wiederkehrende Kommissar Zufall schnell vergessen.

Über dem Durchschnitt bewegen sich Bildgestaltung, Ausstattung und Kostümierung, die dem Film ein plüschiges und umso gefährlicheres Ambiente verleihen. Im Finale, das etwas zu deutlich ins Overacting abrutscht, hätte gekürzt werden können – gerade zu Gunsten des leider etwas ins Hintertreffen geratenden Anschlags auf den jungen Christopher, der im Originalroman, dessen Titel nach zu urteilen, eine deutlich größere Rolle einnahm.

Die Macht des Schicksals und der Pomp, der die Fratze des Bösen kaschiert, stehen im Mittelpunkt eines Dramas, das unter Noir-Gesichtspunkten zu harmlos daherkommt, aber deutlichen Wert auf wichtige Problemstellungen der damaligen Zeit legt. Diese lassen den Kriminalfall in den Hintergrund rücken, was in Anbetracht der ungenutzten Möglichkeiten und des beträchtlichen Potenzials des Films recht bedauerlich ist. 3 von 5 Punkten. Eine Schande ist, dass dieser Film in Deutschland nur wegen einiger (nicht einmal besonders erschütternder) Konzentrationslagerszenen nicht gesendet wurde.

Percy Lister Offline



Beiträge: 3.589

12.06.2015 14:22
#197 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten

BEWERTET: "Versuchung auf 809" (Don't bother to knock) (USA 1952)
mit Marilyn Monroe, Richard Widmark, Anne Bancroft, Donna Corcoran, Lurene Tuttle, Jeanne Cagney, Elisha Cook jr. Jim Backus, Verna Felton, Willis B. Bouchey u.a. | Drehbuch: Daniel Taradash basierend auf dem Roman von Charlotte Armstrong | Regie: Roy Baker



Der Pilot Jed Towers kommt nach Feierabend in die Bar eines New Yorker Hotels, in dem seine Freundin Lyn für die Gäste singt. Diese hat per Brief Schluss mit ihm gemacht. Zur gleichen Zeit bringt der Fahrstuhlführer seine Nichte Nell Forbes in das Luxushotel, um ihr eine Stellung als Kindermädchen zu verschaffen. Sie hat die letzten drei Jahre in einem Nervensanatorium verbracht und soll nun wieder im Alltag Fuß fassen. Aus Ärger und Langeweile beginnt der Pilot einen Flirt mit Nell, die ihn jedoch bald für sich zu vereinnahmen sucht: Er erinnert sie an ihren Verlobten, der mit seinem Flugzeug im Pazifik abstürzte. Was Jed nicht weiß: Sie unternahm damals einen Selbstmordversuch und ist nun zu allem bereit, um ihren "Geliebten" nicht erneut zu verlieren....

Zitat von Marilyn Monroe - Tapfer lieben, Ihre persönlichen Aufzeichnungen, Gedichte und Briefe, S. Fischer Verlag 2010
Fühlen, was ich selbst in mir fühle - das heißt, versuchen mir bewusst zu machen, auch was ich in anderen spüre; mich nicht meiner Gefühle, Gedanken schämen - oder Ideen, sie als das sehen, was sie sind....


Das Hotel als Ort der Momentaufnahmen, des Stückchen Kuchens aus dem Leben verschiedener Menschen, die dort temporär zuhause sind, ist ein beliebter Schauplatz des Films. Auf engem Raum werden Schicksale abgewickelt und bedeutende Entscheidungen gefällt; es wird gestritten, geliebt und manchmal sogar gestorben. Die dramaturgisch dankbaren Ebenen - unten das leichte Amüsement und die Unverbindlichkeit, oben die Vertiefung von Empfindungen und Reaktionen - sorgen dafür, dass eine Handlung in Bewegung bleibt und aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann. So beleuchtet das Drehbuch nicht nur die Beziehung zwischen dem Flugkapitän und der Barsängerin, sondern vor allem das Verhalten der jungen Nell, die unter Ausblendung der Realität wie betäubt agiert.



Vom ersten Augenblick an zeichnet die sechsundzwanzigjährige Marilyn Monroe eine Frau, deren Handlungen wie in Trance ablaufen und deren Auftreten Unsicherheit und Labilität verraten. Der Zuseher ahnt, dass sich Richard Widmark bald in dem Spinnennetz verfangen wird, das sie um ihn webt. Ihre Anhänglichkeit wird zur unberechenbaren Gefahr nicht nur für ihn, sondern auch für das Mädchen, auf das sie aufpassen soll und sogar für ihren besorgten Onkel. Das Zimmer 809 wird zur Falle, zum Brennpunkt aufgestauter Hoffnungen und gerät auch ins Visier anderer Hotelgäste, da die Ereignisse aus dem Ruder laufen. Interessanterweise ist es jedoch nicht der im "Niagara"-Jahr berühmt gewordene Star Marilyn Monroe, der - trotz Fokussierung der eleganten Kamera von Lucien Ballard - im Mittelpunkt steht, sondern es ist der Reifeprozess, den die Beziehung zwischen Widmark und Bancroft durchmacht.

Anne Bancroft wirft dem Mann vor, sich über andere zu erheben, nur die bloßen Fakten und das kalte Äußere wahrzunehmen. Durch die Beschäftigung mit dem Krankheitsfall Monroe wird er gezwungen, sich in eine andere Person einzufühlen, ihre Reaktionen vorauszusehen (zum eigenen Schutz und dem anderer) und wird dadurch aufmerksamer und verständnisvoller. Er besinnt sich auf seine empathischen Stärken und kanalisiert die Bedrohung in überschaubare Grenzen. Die drei Hauptdarsteller überzeugen in ihren jeweiligen Rollen, wobei man zunächst wenig Sympathie für sie empfindet, weil sie unleidlich, arrogant oder neurotisch daherkommen. Der harte Richard Widmark entwickelt sich jedoch zu einem Mann mit Geduld und Ausdauer, während die sonst gern lieblich oder aufreizend inszenierte Marilyn Monroe dem Publikum in der zweiten Hälfte richtig Angst einjagt. Anne Bancroft analysiert das Scheitern ihrer Beziehung sehr präzise, ist aber nicht nachtragend, sondern erkennt die Wandlung des Partners zufrieden an.

Der Film lässt sich nicht einfach in eine Schublade stecken, da er Elemente aus einem Psychothriller, einem Liebesdrama und einer Charakterstudie enthält. Gefahr entwickelt sich nicht durch den Gebrauch von Revolvern oder Handgranaten, sondern durch den wirren Geist eines sensiblen Menschen, dessen abschreckendes Beispiel Balsam für das 'normale' Liebespaar ist, das dadurch über sich hinauswächst. 4 von 5 Punkten

Gubanov ( gelöscht )
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21.06.2015 14:30
#198 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten



Versuchung auf 809 (Don’t Bother to Knock)

Thriller, USA 1952. Regie: Roy Ward Baker. Drehbuch: Daniel Taradash (Buchvorlage „Mischief“: Charlotte Armstrong). Mit: Richard Widmark (Jed Towers), Marilyn Monroe (Nell Forbes), Anne Bancroft (Lyn Lesley), Donna Corcoran (Bunny Jones), Jeanne Cagney (Rochelle), Lurene Tuttle (Ruth Jones), Elisha Cook jr. (Eddie Forbes), Jim Backus (Peter Jones), Verna Felton (Mrs. Ballew), Willis B. Bouchey (Joe, Barmann) u.a. Uraufführung (USA): 18. Juli 1952. Uraufführung (BRD): 6. März 1953. Eine Produktion von Twentieth Century Fox.

Zitat von Versuchung auf 809
Nach der Trennung von seiner Freundin fühlt sich Flugkapitän Jed Towers einsam und verloren. Der Blondine vom Hotelzimmer gegenüber geht es allerdings ganz genauso. Über den Hof beäugen sich die beiden, bis sie sich entschließen, den Abend gemeinsam bei Nell Forbes auf Zimmer 809 zu verbringen. Dass geteiltes Leid nicht in jedem Fall halbes Leid ist, sondern manchmal zu einer noch größeren Tragödie führen kann, bemerkt Jed erst nach zwei Mordanschlägen. Er hat sich mit einer Geisteskranken eingelassen!


Vielversprechend wirbt die DVD aus der „Marilyn Monroe Diamond Collection“ (ein hochgestochener Name für eine Barebones-VÖ aus dem Backkatalog) damit, dass ihr Star in „Versuchung auf 809“ „in ihrer ersten ernsten Rolle, als psychisch gestörte Frau“, zu sehen ist und damit im Zentrum eines „dramatischen Psychothriller[s]“ steht. Wo man sonst nicht selten auf Werbefloskeln trifft, erfüllen sich die Beteuerungen diesmal auf ganzer Linie: Wohl kein zweites Mal – nicht einmal in ihrem bekannteren Noir-Ausflug „Niagara“ – sah man die sonst tollpatschig-aufreizende Marilyn Monroe derartig verschlagen und unheimlich. In der ungewohnten Rolle als Psychopathin gelang der sonst oft nicht für voll genommenen Blondine ihr Vorhaben, schauspielerisches Talent zweifelsfrei unter Beweis zu stellen. Ihre Nell Forbes umkreist ihr Gegenüber wie eine Katze, setzt dabei aber nicht auf hinterlistigen Jagdtrieb, sondern wird von der Zerstörungskraft, die im Wahn von ihr ausgeht, selbst überwältigt. Durch den Krieg geistig aus dem Gleichgewicht gebrachte Figuren gehören zu den wiederkehrenden Motiven des Film Noir, bleiben jedoch üblicherweise auf Männer beschränkt, die als Soldaten physische oder psychische Verletzungen erlitten. „Versuchung auf 809“ geht einen Schritt weiter und verdeutlicht, dass der kriegsbedingte Verlust eines geliebten Menschen ähnliche Schäden hervorrufen kann und die Narben des Kampfes sich folglich nicht auf eine Hälfte der Gesellschaft beschränken.

Nell, die im Roman noch mit Nachnamen Munro hieß, hebt sich von den Bewohnern des New Yorker Luxushotels auch in ihrem sozialen Stand ab: Schön mag sie aussehen; doch sie trägt den Makel mit sich, Nichte des Liftboys und lediglich als Babysitterin ins Hotel engagiert worden zu sein. Ihr Wunsch nach Zugehörigkeit drückt sich in ihrem Verlangen, heimlich das spitzengewebte Negligé ihrer Auftraggeberin sowie deren Diamantschmuck anzulegen, um auch in dieser Hinsicht in eine Welt der Vorspiegelungen und des Selbstbetrugs zu entfliehen. Retrospektiv entfaltet dieser Aspekt des Films eine melancholische Wirkung, zeigt er doch gewisse Parallelen zwischen der Rolle und ihrer Darstellerin auf. Auch Monroe klammerte sich nach einer Jugend voller Ungewissheiten verzweifelt an ihrer eigenen Cinderella-Geschichte fest.

Von Anfang an strahlt „Versuchung auf 809“ düstere Vorahnungen und eine mit bloßen Händen greifbare Spannung aus. Als Kammerspiel fokussiert sich der Film ganz auf seine Charaktere, wobei Nell im unmittelbaren Fokus der Handlung steht und der Liebesgeschichte um Widmark und Bancroft nur periphäre Bedeutung zukommt. Ihre Funktion ist rein formal; sie soll die Fehlleitung des Kinopublikums verhindern und auf ein Beispiel der einzig akzeptablen, nämlich konventionellen Form einer Beziehung verweisen – in Anbetracht der Sirenenrufe, die Monroe in Widmarks Richtung aussendet, ganz nach dem Motto „Auch bei Schwierigkeiten lieber zum Bewährten greifen, als Experimente wagen“. Die Echtzeithandlung verbucht den Vorteil, so unvorhersehbar zu wirken, als sei sie stellenweise improvisiert worden. Auch klingen Momente der Klaustrophobie an, die von der intimen Atmosphäre der Hotelzimmer und von der schonungslos und doch stilvoll geführten Kamera unterstrichen werden.

Ein faszinierender und auf dramatische Weise lebensechter Auftritt der Monroe gerät zum Herzstück eines engagierten Noir, der zwar ohne Mord auskommt, aber doch so viel Nervenkitzel und Offenheit wagt wie wenige seiner Genrekollegen. Ein kurzweiliges Vergnügen mit starken dramatischen Momenten, die zu keinem Zeitpunkt ins Melodramatische umschlagen, sondern stets echt wirken und eine unheilvolle Sogwirkung entwickeln. 5 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

22.06.2015 22:30
#199 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten



Strafsache Thelma Jordon (The File on Thelma Jordon)

Kriminaldrama, USA 1950. Regie: Robert Siodmak. Drehbuch: Ketti Frings (Vorlage: Marty Holland). Mit: Barbara Stanwyck (Thelma Jordon), Wendell Corey (Cleve Marshall), Paul Kelly (Miles Scott), Joan Tetzel (Pamela Blackwell Marshall), Stanley Ridges (Kinsley Willis), Richard Rober (Tony Laredo), Minor Watson (Richter Calvin H. Blackwell), Barry Kelley (Staatsanwalt Melvin Pierce), Basil Ruysdael (Richter Jonathan David Hancock), Gertrude W. Hoffman (Tante Vera Edwards) u.a. Uraufführung (USA): 18. Januar 1950. Uraufführung (BRD): 25. März 1952. Eine Produktion von Paramount Pictures.

Zitat von Strafsache Thelma Jordon
An einem Abend, an dem Hilfsstaatsanwalt Cleve Marshall seine Frau auf den Mond schießen könnte, taucht Thelma Jordon im Büro seines Vorgesetzten auf. Was zwischen Cleve und Thelma als angeschwipster Jux beginnt, entwickelt sich bald zu einer folgenschweren Affäre. Nachdem ein Einbrecher die Tante der Dame erschießt und Thelma Angst bekommt, der Verdacht könnte auf sie fallen, hilft Cleve ihr bei der Beseitigung der Indizien. Das gemeinsame Vorhaben stellt sich als wenig erfolgreich heraus: Thelma wird wegen Mordes vor Gericht gestellt und Cleve muss die Anklage führen!


Die möglichst zeitnahe Kopie großer Kinoerfolge zählt seit jeher zu den üblichen Strategien der Produzenten, um an Trends und erprobten Rezepten zu partizipieren. Insofern erscheint es direkt ungewöhnlich, dass sich Hal B. Wallis mit seiner Zweitverwertung von Billy Wilders Noir-Essenz „Frau ohne Gewissen“ nicht weniger als sechs Jahre Zeit ließ. Freilich war der Terminplan der Stanwyck, die von Connaisseurs gern als „Queen of Noir“ bezeichnet wird, in dieser Zeitspanne zum Bersten gefüllt; umso wichtiger und richtiger, dass man sich die Zeit nahm, um diesen beinahe als Hommage an Wilders Meisterwerk zu lesenden Film auch tatsächlich unter ihrer Mitwirkung zu drehen. Die Parallelen sind unverkennbar. Ohne die Wendungen um die Figur aus dem Filmtitel vorwegzunehmen, lässt sich auf die formidable Ausprägung der klassischen Rollentypen, wie sie auch in „Frau ohne Gewissen“ gezeigt wird, verweisen. Thelma Jordon geht zwar die Direktheit einer Phyllis Dietrichson ab; dafür erhält Stanwyck ausführlichere Gelegenheit, subtile Zwischentöne anzuschlagen und den Zuschauer in ein Gefühl des Zweifels zu versetzen.

Zitat von Margarita Landazuri: „The File on Thelma Jordon“ at Turner Classic Movies, Quelle
The File on Thelma Jordon marked the only time Siodmak worked with legendary femme fatale Barbara Stanwyck, in a role that has been described as a more complex version of her Phyllis Dietrichson in Double Indemnity (1944). [... Unlike] the more straightforwardly evil Phyllis Dietrichson, Thelma’s motivations and emotions are harder to read. Does she love the hapless D.A., is she using him, or a little of both? Stanwyck, as usual, delivers an intense performance as a woman with a past who is more conflicted than wicked, and for whom it may be too late to change.


Diese Ambiguität reflektiert die Ausrichtung von „The File on Thelma Jordon“ als Mischung aus romantischem Drama und Gerichtskrimi. Vorwürfe, der Film gerate zu schwülstig oder langatmig, mögen gerade in der ersten Hälfte der Produktion naheliegen, halten dem Kritiker letztendlich jedoch nur den Spiegel ob seiner verengten und vielleicht auch sensationsgierigen Erwartungen an einen Film Noir vor – amüsanterweise gerade jene Eigenschaften, die von Siodmak im vorliegenden Film in anderem Kontext kritisiert werden. Durch die überbordende Laufzeit von 100 Minuten, die sich stellenweise als dramaturgisch unglücklich erweist, gelingt dem Regisseur eine eindringliche Skizzierung der Hauptfiguren, die jeweils tief im Dilemma zwischen zwei Partnern feststecken und sich in ihren Zwangslagen zu unvorsichtigem Affekthandeln verleiten lassen. Bemerkenswert ausgefeilt erscheint der Kontrast zwischen der eigenständigen, ja verlorenen Thelma Jordon und der allzu sozialisierten, hausbackenen Ehefrau Pamela, wobei Stanwyck als Versuchung vor allem in dunkler Umgebung, die ähnlich attraktive Joan Tetzel fast ausschließlich in hellen Dekors aufgenommen wird.

Zitat von Margarita Landazuri: „The File on Thelma Jordon“
The film was intended for director Otto Preminger who had previously scored a huge hit with Laura (1944) in the same genre, and Stanwyck agreed to the project. It would have been her first film with Preminger. But he turned out to be unavailable, so Siodmak took over.


Die zunächst vermisste Spannung wird von Siodmak routiniert im Hintergrund aufgebaut und spitzt sich in einem in jeder Hinsicht leidenschaftlich geführten Prozess zu. Wie ein Donnerschlag in einem Gewitter nach großer Hitze entlädt sich im Urteilsspruch die Erregung des Zuschauers. Es spricht für „The File on Thelma Jordon“, dass der Film es nicht dabei belässt, sondern im Kielwasser der juristischen Auseinandersetzung weitere Wendungen einbaut, mit denen viele der vorher gesehenen Szenen in ein anderes Licht gerückt werden. Auf diese Weise regt der Film zur mehrfachen Sichtung an, wirkt ähnlich vielschichtig, aber etwas komplizierter und nicht ganz so universell zugänglich wie sein großes Vorbild von 1944.

Eine starke Bindung zwischen Barbara Stanwyck und Wendell Corey, zwei verdienten Größen der Schwarzen Serie, sichert Robert Siodmaks Schilderung von Unmoral und Unrast ein überzeugendes psychologisches Moment. Hinzu kommt eine solide Krimihandlung, deren verspätetes Einsetzen ein wenig Geduld erfordert, der charakterlichen Entwicklung des Films aber äußerst gut tut. Mit einem Wink an „Frau ohne Gewissen“ verteile ich 4,5 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
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23.06.2015 18:45
#200 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten



Der Attentäter (Suddenly)

Thriller, USA 1954. Regie: Lewis Allen. Drehbuch: Richard Sale. Mit: Sterling Hayden (Sheriff Tod Shaw), Nancy Gates (Ellen Benson), Frank Sinatra (John Baron), James Gleason (Pop Benson), Kim Charney (Peter Benson, genannt „Pidge“), Willis Bouchey (Dan Carney), Paul Frees (Benny Conklin), Christopher Dark (Bart Wheeler), James O’Hara (Jud Hobson), Kem Dibbs (Wilson) u.a. Uraufführung (USA): 7. Oktober 1954. Uraufführung (BRD): 13. Mai 1955. Eine Produktion von United Artists und Libra Productions.

Zitat von Der Attentäter
Das kleine Städtchen mit dem ungewöhnlichen Namen Suddenly gerät „ganz plötzlich“ in Aufregung: Polizisten und Männer vom Secret Service durchkämmen das Bahnhofsviertel, denn der Präsident der Vereinigten Staaten soll in wenigen Stunden just hier einem Zug entsteigen. Zuvor waren den Behörden Planungen für einen Anschlag zu Ohren gekommen. Und tatsächlich: Im Haus auf dem Hügel, das ausgerechnet einem ehemaligen Geheimdienstler gehört, nistet sich eine Gangsterbande ein, die vor nichts zurückschreckt, dem Staatsoberhaupt eine Kugel in den Kopf zu jagen. Die Bensons und den hiesigen Sheriff nehmen sie als Geiseln ...


Das kleinstädtische Idyll und damit die für selbstverständlich erachtete Normalität einer eng miteinander verbundenen Gruppe von Menschen wird in „Der Attentäter“ in rapidem Tempo von zwei gegensätzlichen Personenkreisen ausgehebelt. In die eine Ecke des Rings tritt der Secret Service zum Schutz des Präsidenten, in die andere John Barons Gang zur Ermordung des Präsidenten. Nicht umsonst lässt der Film die Handlung an einem Wochenende spielen, an dem die Einheimischen üblicherweise ihrem Müßiggang nachgegangen wären, durch die ungewohnte Bedrohung jedoch die schier unmenschliche Verantwortung in die Hände gelegt bekommen, nicht nur ihr eigenes Leben zu retten, sondern auch das des „mächtigsten Mannes der Welt“. Vielsagend, dass sich ausgerechnet ein finanzschwaches B-Picture einer unabhängigen Produktionsfirma dieses übergroßen Macguffins bediente, um Nervenkitzel zu generieren und die Sympathien der Zuschauer klar zu kanalisieren.

Häufig wird Frank Sinatras Auftritt als der stärkste des Films bezeichnet. Unmittelbar vor „Der Attentäter“ hatte er für seine Nebenrolle in „Verdammt in alle Ewigkeit“ einen Oscar gewonnen, sodass für seine Verpflichtung in diesem Film neben künstlerischen Aspekten klar auch Werbegründe im Vordergrund gestanden haben dürften (interessanterweise war zunächst der ebenfalls nominierte, letztlich jedoch – wie immer – leer ausgegangene Montgomery Clift für die Sinatra-Rolle vorgesehen). Während Sinatra seinen Part tatsächlich sehr charismatisch verkörpert, krankt sein John Baron schon am Reißbrett an den offensichtlichen Tabugrenzen, die sich das selbstbewusste Amerika im Kalten Krieg in Bezug auf die Figur eines Präsidentenkillers setzen musste. Obwohl glaubhaft eingeführt wird, dass eine fürstliche Bezahlung die Hauptmotivation des von einem unbekannten Auftraggeber gedungenen Scharfschützen ist, kann sich das Script von Richard Sale nicht verkneifen, Baron unterm Strich als einen hoffnungslosen Verrückten abzustempeln – in einem Ausmaß, das in einigen Szenen durchaus bereits an unfreiwillige Komik grenzt, vor allem wenn sich Sinatra mit trübem Blick direkt in die Kamera wendet oder ihm – wenig überraschend – kommunistische Tendenzen vorgeworfen werden.

Ansprechender gelingt die Porträtierung der Gegenseite, die mit Sterling Hayden als urcoolem Sheriff und Nancy Gates als besorgter Mutter mindestens ebenso glaubwürdig besetzt ist. Hinzu kommt, dass die „Helden“ selbst nicht frei von Schwächen sind, die sich bei Tod Shaw und Pop Benson in übermäßigem Patriotismus und dem in den USA bis heute prävalenten Hang zum Tragen und Einsatz von Waffen ausdrücken, bei Ellen Benson in ihrer fürsorglichen Gluckenhaltung gegenüber ihrem Sohn, der unter ihrer Überbehütung gerade unter Gleichaltrigen zu leiden hat. Es kommt der Geschichte zugute, dass diese Schwächen durch das Auftreten des „Attentäters“ hinterfragt werden und sich vielleicht sogar zaghaft zu ändern beginnen. Ist zu Anfang schlicht davon die Rede, dass eine Pistole in den richtigen Händen viele gute Taten unterstüzt und Pflichterfüllung auch an der Waffe ohnehin das Beste und Ehrenwerteste ist – auch wenn man hinterher die Radieschen von unten betrachtet –, so macht Barons Auftreten schnell klar, dass Lehrbuchweisheiten der Schießprügelliebhaber wenig Wert haben, wenn ein Verrückter am Abzug Gott spielt.

Eher unsägliches Interesse rief „Der Attentäter“ noch einmal neun Jahre nach seiner Veröffentlichung hervor. Am 22. November 1963 starb John F. Kennedy in Dallas an der Kugel des Scharfschützen Lee Harvey Oswald. Oswald, der in seinem Anschlag nicht unähnlich zu Baron vorging und sogar optisch durchaus Ähnlichkeiten mit der Figur aufweist, hatte sich am Vorabend der Tat angeblich gerade diesen Film angesehen, der daraufhin für mehrere Jahre eingemottet wurde. Fraglich erscheint mir seine Motivation, nachdem Barons Rolle aus Oswalds Sicht nicht gerade schmeichelhaft gewesen sein muss.

Eine tageshelle Stadt im sonnendurchfluteten Kalifornien: Wo äußere Gegebenheiten nicht für das gewohnt dunkle Noir-Gefühl sorgen, helfen abgründige Charaktere ein großes Stück weiter. Tatsächlich porträtiert Frank Sinatra einen wahrhaft teuflischen Mörder, dessen Rolle an der Vielzahl an Projektionen, die bei einem Vorhaben wie Präsidentenmord aufkommen, aber zwangsläufig nur scheitern kann. Sehenswert ist der Film deshalb trotz seines knappen und engagierten Schnitts weniger aus Spannungsgründen, sondern vor allem aufgrund der dreidimensionalen und deshalb polarisierenden Rollen der Geiseln. 4 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
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24.06.2015 22:15
#201 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten



Straße der Versuchung (Scarlet Street)

Liebesdrama, USA 1945. Regie: Fritz Lang. Drehbuch: Dudley Nichols (Buchvorlage „Le chien“: Georges de la Fouchardière, André Mouézy-Éon). Mit: Edward G. Robinson (Christopher Cross), Joan Bennett (Katherine „Kitty“ March), Dan Duryea (Johnny Prince), Margaret Lindsay (Millie Ray), Rosalind Ivan (Adele Cross), Jess Barker (David Janeway), Charles Kemper (Homer Higgins), Anita Sharp-Bolster (Mrs. Michaels), Samuel S. Hinds (Charles Pringle), Vladimir Sokoloff (Pop LeJon) u.a. Uraufführung (USA): 28. Dezember 1945. Uraufführung (BRD): 22. Juni 1950. Eine Produktion von Universal Pictures und Diana Productions.

Zitat von Straße der Versuchung
Die Naivität eines Mannes im dritten Frühling nutzt Ganovenliebchen Kitty March auf Geheiß ihres Verlobten Johnny ruchlos aus: Chris Cross, der glaubt, in Kitty eine verständnisvolle Freundin gefunden zu haben, finanziert der Lebefrau ein großes Apartment und verspricht, sie zu porträtieren. Nachdem es auch für Chris immer schwerer wird, neues Geld aufzutreiben, verfällt Johnny auf die Idee, die Bilder des alten Mannes zu verkaufen. Die kindlichen Gemälde überzeugen die Fachwelt und werden bald zu Höchstpreisen gehandelt. Doch irgendwann wird die Zeitbombe in diesem Versteckspiel platzen ...


Im Kielwasser der etwas zahnlosen, dafür gemütlichen „Gefährlichen Begegnung“ von 1944 drehte Fritz Lang mit den gleichen Stars in ganz ähnlichem Ambiente ein Jahr später „Straße der Versuchung“, ohne dabei an die Unterhaltungswerte des ersten Robinson-Bennett-Duryea-Projekts anknüpfen zu können. Interessanterweise gilt „Scarlet Street“ als einer der ganz großen Noir-Klassiker von Lang und fährt überall hohe Bewertungen ein. Mich sprach der Film jedoch wenig an, was einerseits an seiner langatmigen Erzählweise, an den unleidlichen Charakteren und vor allem an seiner Unentschlossenheit liegt. Zunächst eine Romanze, verliert sich der Film vor allem in den Szenen, die das Zusammenspiel zwischen Kitty March und Johnny Prince sowie zwischen Chris und Adele Cross zeigen, in komödiantischen Übertreibungen, die ihn beinahe in die Nähe frühen Slapsticks rücken. Dadurch verspielt Lang jeden Anspruch darauf, die Charaktere ernst nehmen zu können, sodass das dramatische, ja fatalistische Ende (bei dem Schwierigkeiten mit den Zensoren nicht verwundern: „Scarlet Street“ erhielt in drei amerikanischen Städten Aufführungsverbot) nicht recht funktionieren und mit dem vorher Gesehenen zusammenpassen mag.

Die Einbindung von Cross’ Kunstfaible tut dem Film gut: Sie gibt ihm eine charakteristische Note und wertet Dialoge und Interaktionen zwischen Robinson und Bennett auf – eine Verfeinerung, die bitter nötig ist, nachdem sich hinter seiner dümmlichen Träumer- und ihrer abgehalfterten Schmarotzerfassade nur leidlich interessante Persönlichkeiten verbergen. Besonders faszinierend erscheint das angebliche „Selbstporträt“ Kittys, das Joan Bennetts eigenwillige Schönheit einfängt und ihr jene Noblesse verleiht, die man bei ihrer Rolle über den Rest der Laufzeit vermisst. Schwer fällt allerdings, zu glauben, dass die naiven und unperspektivischen Bilder bei Kunstkritikern tatsächlich Jubelstürme ausgelöst hätten. Dies fügt sich in ein Umfeld anderer Unwahrscheinlichkeiten der Handlung ein, die stellenweise im Kleid einer Verwechslungskomödie daherkommt.

In verschiedenen Kleinigkeiten blitzt Langs inszenatorische Genialität durch. Für Kenner von „Gefährliche Begegnung“ gerät vor allem der Beginn amüsant, als Robinson Duryea mit einem gezielten Kinnhaken niederstreckt und man für einen Moment glaubt, die Täter-Opfer-Konstruktion aus dem anderen Film würde sich auch diesmal wiederholen. Weitere spannungsvolle Höhepunkte wie die (lange auf sich warten lassende) Mordszene oder die am Ende aufkommenden Wahnvorstellungen des Protagonisten sind Zeichen von Langs großer Inszenierungsfreude, brechen jedoch erst so spät in den Film ein, dass mein Interesse bis dahin schon längst flöten gegangen war.

Unnötig komplizierte und doch mit Längen behaftete Kriminalkomödie, die eine sich steigernde Spirale von Ausnutzung und Gefahrenpotenzial schildert, dabei aber stilistisch uneinheitlich wirkt. Langs Bemühungen, die Geschichte mit angemessener Düsternis zu erfüllen, werden vor allem von den überkandidelten Auftritten Dan Duryeas und Rosalind Ivans zunichte gemacht. 2,5 von 5 Punkten als Kontrapunkt zur großen Anerkennung, die „Straße der Versuchung“ üblicherweise genießt.

Gubanov ( gelöscht )
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25.06.2015 20:00
#202 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten



The Red House

Gruselkrimi, USA 1947. Regie: Delmer Daves. Drehbuch: Delmer Daves, Albert Maltz (Buchvorlage: George Agnew Chamberlain). Mit: Edward G. Robinson (Pete Morgan), Lon McCallister (Nath Storm), Allene Roberts (Meg), Judith Anderson (Ellen Morgan), Rory Calhoun (Teller), Julie London (Tibby), Ona Munson (Mrs. Storm), Harry Shannon (Dr. Jonathan Byrne), Arthur Space (Sheriff), Walter Sande (Don Brent) u.a. Uraufführung (USA): 16. März 1947. Eine Produktion von United Artists und Thalia Productions.

Zitat von The Red House
Nath Storm nimmt in seinem letzten Schuljahr eine Stellung als Stalljunge auf der entlegenen Farm der Morgans an. Weil er auf dem Nachhauseweg zwei Meilen abkürzen will, schlägt er Pete Morgans eindringliche Warnungen, sich von Oxhead Woods fernzuhalten, in den Wind – nur um wenig später zu Tode erschrocken zur Farm zurückzukehren. Was verbirgt sich in dem dichten Waldgebiet? Welches Geheimnis verschweigen die Morgans dem Jungen? Gemeinsam mit der Adoptivtochter Meg macht sich Nath auf die Suche nach dem ominösen roten Haus, das inmitten des Waldes in einen Dornröschenschlaf versunken ist ...


Wer einer Noir-Definition im engeren Sinne nachhängt, die die Filme der Schwarzen Serie auf Kriminalfilme in einem städtischen Umfeld voller Pessimismus und Korruption einschränkt, wird „The Red House“ eher nicht als Bestandteil des Kanons wahrnehmen. In einer ähnlich düsteren, aber vollkommen anders gelagerten Melange aus Heimatdrama, Märchenfilm und Plüschkrimi entfaltet die Produktion von 1947 eine wahrlich einmalige Wirkung, die vom Rezensenten der New York Times zu Recht als „such an edifying offering, which should supply horror-hungry audiences with the chills of the month“ und „as eerie as a well-spun ghost story“ bezeichnet wurde (Quelle). Kameramann Bert Glennon fängt die romantische Schönheit der sich an sanfte Hügel anschmiegenden nordkalifornischen Wälder und Felder in mitreißenden Schwarzweißbildern ein, die sich aufs Beste mit der symphonischen Musik von Miklós Rózsa und Delmer Daves’ Bemühungen um die charakterliche Kontrastierung von Schuld und Unschuld ergänzen.

Von Edward G. Robinsons Darstellung des von seinem düsteren Geheimnis besessenen Mannes, der dadurch zunächst zum Rätsel und schließlich zur Gefahr für sein Umfeld wird, geht eine enorme Spannung aus, die die Handlung ohne zähe Momente vorantreibt und Motive Freud’scher Psychologie einbringt. Vor allem das Finale profitiert von der Pete Morgan innewohnenden Bedrohlichkeit, gegen die er selbst nichts unternehmen kann. Seine eindringlichen Warnungen an Nath und Meg, sich von Oxhead Woods fernzuhalten, kreieren einen unwiderstehlichen Reiz des Verbotenen, in dessen immer ausufernderen Strudel die jungen Protagonisten wie von einem Magneten hineingezogenwerden. Lon McCallister und Allene Roberts gestalten ein so wunderbar von den Schmutzigkeiten der üblichen Noir-Welt distanziertes, reines und unverdorbenes Paar, dass sie einerseits mit ihrem jugendlichen „coming of age“-Aspekt dem Plot ein wichtiges Anliegen über den reinen Grusel hinaus hinzufügen, andererseits in Bezug auf das Geheimnis des roten Hauses und dessen gewissenlose Hüter besonders verletzlich wirken. Wieder arbeitet Daves mit dem Mittel der Gegenüberstellung, indem er das aufrichtige und bodenständige Paar mit einem zweiten (Rory Calhoun und Julie London) spiegelt, das Laster wie Verschlagenheit, Gier, Egoismus und sexuelle Offenherzigkeit repräsentiert.



Während Lon McCallister schon in den 1930er Jahren als Kinderstar im amerikanischen Kino große Erfolge feierte, war „The Red House“ für Allene Roberts die erste Rolle überhaupt. In einem Interview erinnert sie sich an ihr Kennenlernen mit Produzent Sol Lesser, der bei der Auswahl der Darstellerin vor allem einen möglichst großen Kontrast zu Gegenspielerin Julie London im Hinterkopf hatte:

Zitat von Laura Wagner: Allene Roberts – True to her roots. Films of the Golden Age. Quelle
Allene vividly remembers how she secured her part in The Red House. „The producer of that movie was Sol Lesser. He called and gave my mother and me an invitation to come to lunch at a studio, so we went, and Lon [McCallister] was there, too. While we were eating and talking and getting to know one another, he asked me, ‚Allene, I want to ask you a question. When you go to the beach, do boys whistle at you?’ I said, ‚No, sir, they don’t.’ He said, ‚You’ve got the part.’“


Tatsächlich gelingt es Delmer Daves, Megs Mädchenhaftigkeit und ihre fehlende Lebenserfahrung, aber auch ihren Reifungsprozess im Verlauf der Ermittlungen zum roten Haus sichtbar zu machen. Großaufnahmen der Jungschauspielerin in ungewohnter Länge und Ausdrucksstärke belegen nicht nur, dass Sol Lesser mit seinem Casting einen genialen Treffer gelandet hatte, sondern auch dass es ihm in „The Red House“ eher um das beste optische Resultat ging als wie sonst in Hollywood um die Erfüllung einer an Berühmtheit gebundenen Nahaufnahmen-Quote. Das bedeutet freilich nicht, dass Robinson oder Judith Anderson zu kurz kämen – auch letztere erhält die Gelegenheit, die Tragik und aufgebrachten Opfer ihrer Mitwisserrolle voll auszuspielen.

In ihrer Betrachtung von Allene Roberts’ Karriere, die die Darstellerin ebenso wie ihr Filmpartner, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband, vorzeitig beendete, urteilt Laura Wagner über den in Deutschland leider nie aufgeführten Krimi:

Zitat von Laura Wagner: Allene Roberts – True to her roots
The Red House (1947), directed by Delmer Daves, remains one of the most atmospheric, eerie films of the ’40s. Although it is considered a minor noir classic today, its pervasive pessimism and sadness might have deterred some viewers during its initial, modest February 1947 release. The film is incredibly evocative of a complex range of emotions. Bizarre, dark, moody, and haunting, with Freudian themes running rampant; those who have seen it are not likely to forget it.


Jahrzentealte Schuldlast und der Einbruch von Gefahr und Sexualität, aber auch von Befreiung und Erwachsenwerden in ein beinah weltfremd idyllisches Dorfmilieu machen diesen empfindsamen Gruselkrimi zu einem Noir besonderer Prägung. Gerade Anhänger klassischer Schauerstücke sollten „The Red House“ gesehen haben und können sich an der Seite erfrischend liebenswürdiger Detektive auf die Suche nach einem gut gehüteten Geheimnis und deren eigener, vergessen geglaubter Vergangenheit begeben. Top-Leistungen von Darstellern, Regie, Kamera und Musik sowie klare 5 von 5 Punkten.

Percy Lister Offline



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19.07.2015 14:48
#203 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten

BEWERTET: "Der schwarze Spiegel" (USA 1946)
mit: Olivia de Havilland, Lew Ayres, Thomas Mitchell, Richard Long, Charles Evans, Gary Owen, Lela Bliss, Lester Allen u.a. | Drehbuch: Nunnally Johnson nach der Kurzgeschichte von Vladimir Pozner | Regie: Robert Siodmak



Doktor Perada wurde erstochen in seinem Apartment aufgefunden. Augenzeugen wollen gesehen haben, wie kurz nach der mutmaßlichen Tatzeit eine junge Frau das Haus verlassen hat. Es handelt sich um die Zeitungsverkäuferin Terry Collins. Als Polizeileutnant Stevenson die Verdächtige verhört, erlebt er eine Überraschung: Terry hat eine Zwillingsschwester namens Ruth. Welche von beiden soll er verhaften? Mithilfe des Psychiaters Scott Elliott versucht er, hinter die Fassade des Paares zu blicken und die Schuldige aus der Reserve zu locken....

Zitat von Unsere Filmlieblinge - Ein Bilderbuch, Hrsg. Friederike Mat, Verlag B. Reiff 1956
"Was Olivia vor anderen guten Schauspielerinnen auszeichnet, ist ihr schrankenloser Mut: der Mut zur Hässlichkeit; der Mut, sich unpopulär zu machen; der Mut, eine schlechte Rolle abzulehnen; der Mut schließlich, Frauen zu spielen, die vom Glück nicht geliebt werden - auch wenn das Publikum dann jeweils Parallelen mit ihrem eigenen Leben herausliest."


Ähnlichkeiten zwischen privatem und beruflichem Engagement gibt es auch im Fall ihrer Schwester Joan Fontaine, die Olivias Verlobten Brian Aherne heiratete. Rivalität zwischen Geschwistern ist also nichts, was der dunkelhaarigen Schauspielerin fremd wäre. Sie schafft es überzeugend, zwei unterschiedliche Frauen zu zeichnen, deren persönliche Charakterzüge zugunsten des Selbsterhalts vor der Öffentlichkeit zurücktreten müssen. Die Mordanklage, die über einer der beiden schwebt, nimmt auch die unschuldige andere in Geiselhaft. Wer das Versprechen des Schweigens und der Loyalität bricht, gefährdet nicht nur die Täterin, sondern auch sich selbst. Die latente Drohung des stärkeren Teils, die andere mit in den Abgrund zu reißen, vergiftet die Atmosphäre nach und nach und lässt keinen Raum mehr für ein ohnehin restriktives Eigenleben. Die Doppelgängerin - Trösterin in einsamen Stunden, Verbündete gegen die Unbillen des Lebens - zeigt hier die andere Seite der Medaille und offenbart die Schattenseiten, die mit der Aufgabe der Einzigartigkeit des Individuums einhergehen.



Das klassische Dreieck ist hier umso problematischer, als eine Verwechslung tödliche Gefahr in sich birgt und einen zweiten Mord auslösen kann. Die Schizophrenie der Gleichbehandlung von Ungleichen äußert sich sehr anschaulich in den Analysesequenzen, die im amerikanischen Unterhaltungskino kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs populär waren. Nachdem sich die Menschheit eine gewaltige Niederlage eingestehen musste - sie hatte auf mehreren Ebenen folgenreich versagt - versuchte sie, durch das Ergründen seelischer Befindlichkeiten, Erklärungen (und Rechtfertigungen bzw. Entschuldigungen) zu finden. Freilich ist es bequemer, die Schuld in den Genen zu suchen, als Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Das Motiv des zerbrochenen Spiegels, der als Todessymbol für die Auslöschung eines Rivalen steht, weist auf eine gespaltene Persönlichkeit hin, deren verzerrte Wahrnehmung das Schöne und Gute bedroht.

Der Glamour der Vierziger Jahre äußert sich in der selbstbewussten, freidenkenden Terry, die eine hohe Meinung von sich hat, während ihre sanfte, trotz identischer Kleidung bieder wirkende Schwester Ruth noch die Erwartungshaltung an die (Haus-)Frau der mittelständischen Zivilgesellschaft verkörpert. Sie ist anpassungsfähig und bescheiden, leidet aber zunehmend an Stimmungsschwankungen. Überträgt sich hier Terrys Persönlichkeit auf die schwächere Schwester? Oder gibt es doch mehr Gemeinsamkeiten als man uns glauben machen will? Beängstigend sind jedenfalls nicht nur Terrys eiskalte Dominanz und ihr brillanter Geist, sondern auch die Diktion des Films: Abweichungen von der Regel als Ansatz zum Wahnsinn darzustellen. Natürlich sympathisieren wir mit Ruth - aber bewundern wir Terry nicht auch für ihren Nonkonformismus? Sind Aggressionen unnatürlich, Egoismus verwerflich und abstraktes Denken unerwünscht?

Ein spannender, kriminalistisch hochinteressanter Film, der mehr Fragen aufwirft als er beantwortet. Technisch ausgefeilt und darstellerisch perfekt, unterhält der Film auf hohem Niveau. 5 von 5 Punkten.

Percy Lister Offline



Beiträge: 3.589

30.08.2015 15:05
#204 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten

BEWERTET: "Die seltsame Liebe der Martha Ivers" ("The Strange Love of Martha Ivers" USA 1946)
mit: Barbara Stanwyck, Van Heflin, Kirk Douglas, Lizabeth Scott, Judith Anderson, Roman Bohnen, Darryl Hickman, Ann Doran, Janis Wilson, Frank Orth, James Flavin u.a. | Drehbuch: Robert Rossen nach einer Geschichte von Jack Patrick | Regie: Lewis Milestone

Martha lebt nach dem Tod ihrer Eltern bei ihrer reichen Tante, möchte aber lieber mit ihrem Kumpel Sam durchbrennen. Eines Nachts wird Mrs. Ivers von ihrer Nichte geschlagen und bricht sich beim daraus resultierenden Treppensturz das Genick. Martha erbt im Alter von achtzehn Jahren das beträchtliche Vermögen, da ihr Schulfreund Walter, der Zeuge der Tat war, schweigt. Nach über fünfzehn Jahren kehrt Sam in die Stadt zurück, die sich zu einem prosperierenden Industrieort entwickelt hat. Martha hat die Fabriken übernommen, Schulen und Krankenhäuser gebaut und beschäftigt über 30.000 Menschen. Walter und sie haben in der Zwischenzeit geheiratet und alles scheint in geordneten Bahnen zu verlaufen. Als Sam bei Martha vorspricht, fürchtet Walter, der für den Posten des Bezirksstaatsanwalts kandidiert, dass der alte Schulfreund sie mit dem Mord erpressen will, für den Jahre später aufgrund der Aussage Marthas ein Unschuldiger gehängt wurde.....



Obwohl Barbara Stanwyck erst nach einer halben Stunde auf der Bildfläche zu sehen ist, dominiert sie nicht nur den nach ihrer Familie benannten Ort, sondern auch die Handlung. Ihr Talent, sekundenschnell von butterweich-charmant zu stahlhart-unerbittlich zu wechseln, prädestiniert sie sowohl für ruchlose Mörderinnen-Rollen, als auch für leidenschaftliche Kämpferinnen. Der Reiz ihrer Verbindung zu Douglas und Heflin liegt darin, dass sich keiner der Beteiligten - geschweige denn der Zuschauer - je ganz sicher über den Stand der Emotionen ist. So fußt die Ehe von Martha und Walter auf einem Zweckbündnis, bei dem bis zum Schluss nicht klar ist, wer wen in der Hand hat und ob es sich um verschmähte Zuneigung, Hass oder Hörigkeit handelt. Das reizvolle Spiel mit dem Suspense um die Dreiecksgeschichte, die mit Mord, Gewalt und Machtdemonstrationen einhergeht, braucht seine Zeit, sich zu entfalten.

Das Drehbuch verharrt gern in Einzelheiten, um die Charaktere der Personen zu entblättern. Die Vergangenheit ist Kitt einer Ehe und das gemeinsame Geheimnis, das zum Schweigen verpflichtet und durch eine astreine, auf Erfolg getrimmte Lebensführung ausgelöscht werden soll. Der weniger disziplinierte Sam, der keinem Plan folgt und vor allem vom Glücksspiel lebt, bringt das Ordnungsgefüge durch seine Anwesenheit durcheinander, vor allem, weil er die verklärte Sicht Marthas entzaubert. In ihrer Erinnerung war Sam eine verpasste Chance auf Freiheit, der sie nachtrauerte, um sich zu beweisen, dass der vorgezeichnete Weg auch eine andere Wendung genommen haben könnte. Die Enttäuschung, die in Missgunst und Rache umschlägt, treibt die Ereignisse voran und hebt den Deckel über der Glut des ersten Mordes, der als mahnender Begleiter stets anwesend war. Alle Bemühungen scheinen umsonst gewesen zu sein und treiben die handelnden Personen zu unüberlegten, verzweifelten Ausbruchsversuchen.

Neben der überlegen aufspielenden Barbara Stanwyck fallen Kirk Douglas und Lizabeth Scott angenehm auf. Ihre Rollen an der Seite der Hauptpersonen stimulieren diese und treiben sie an. Douglas beeindruckt als ergebener Schwächling ebenso wie als aufbegehrender Mann zwischen Pflicht und Neigung. Er versteht es gut, verschlagen und rachsüchtig zu sein, gleichzeitig aber auch Zweifel und Schuldgefühle wach werden zu lassen. Er ist der Faktor, der am berechenbarsten sein soll, bringt die Erwartungshaltung an seine Person aber immer wieder ins Wanken. Er ist psychisch gebrochen und wird von seiner energischen Frau mitgeschleift. Lizabeth Scott besticht als das Mädchen, das einfach Pech gehabt hat und nun einen Strohhalm ergreift, um ein besseres Leben führen zu können. Sie ist die einzige Sympathieträgerin des Films und Komplizin des Zuschauers, der mehrmals darum bangen muss, dass sie die Stadt (und somit die Handlung) verlässt. Ihre Anhänglichkeit und die unterdrückte erotische Atmosphäre stehen sinnbildlich für die gebrochenen Helden des Film Noir, die sich mit den neuen Umständen arrangieren.

Düster und unheilschwanger wirft der Mord seine Schatten auf das Leben von Martha und Walter O'Neill, deren fragiles Privatleben mit dem strahlenden Bild in der Öffentlichkeit konkurriert. Darstellerisch brillant besetzt, zeigt der Film die hässliche Fratze verschütteter und verborgener Emotionen, deren Beherrschung manchmal über Leben und Tod entscheidet. 5 von 5 Punkten

Gubanov ( gelöscht )
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05.09.2015 16:00
#205 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten

Hui, 5 von 5 Punkten kommen bei Percy im Noir-Fach nicht allzu häufig vor. Das hat mich doch sehr gespannt gemacht auf diese Stanwyck-Perle!



Die seltsame Liebe der Martha Ivers (The Strange Love of Martha Ivers)

Liebesdrama, USA 1946. Regie: Lewis Milestone. Drehbuch: Robert Rossen (Buchvorlage „Love Lies Bleeding“: John „Jack“ Patrick). Mit: Barbara Stanwyck (Martha Ivers), Van Heflin (Sam Masterson), Lizabeth Scott (Antonia „Toni“ Marachek), Kirk Douglas (Walter O’Neil), Judith Anderson (Mrs. Ivers), Roman Bohnen (Mr. O’Neil), Darryl Hickman (der junge Sam), Janis Wilson (die junge Martha), Mickey Kuhn (der junge Walter), Ann Doran (Bobbi St. John) u.a. Uraufführung (USA): 24. Juli 1946. Uraufführung (BRD): 16. August 1989. Eine Produktion von Paramount Pictures und Hal Wallis Productions.

Zitat von Die seltsame Liebe der Martha Ivers
Im Mädchenalter erschlug Martha Ivers ihre herrschsüchtige Tante. Mit 21 Jahren erbte sie ihre Fabrik und mit ihr fast das ganze Städtchen Iverstown. Mit dem Jungen, der damals den Mord mit ansah, ist sie mittlerweile verheiratet, als ein Jugendfreund zufällig wieder nach Iverstown kommt und Marthas instabiles Glück wieder aus dem Gleichgewicht zu bringen droht. Wie viel weiß Sam Masterson von den damaligen Ereignissen und wie wird er dieses Wissen ausnutzen, um finanziellen und romantischen Profit aus der Situation zu schlagen? Martha und ihr Mann Walter begegnen der Situation mit äußerster Anspannung ...


Auch wenn „Die seltsame Liebe der Martha Ivers“ über einen gen Null tendierenden kriminalistischen Gehalt verfügt, finden sich in der Lebensgeschichte der Titelfigur doch existenzielle Noir-Motive im Überfluss wieder. Was ist diese seltsame Liebe, von der hier die Rede ist? Ist es Martha Ivers’ sonderbare Hassliebe zu ihrem trinkenden Ehemann – eine impotente Zweckehe, in der sich Mann und Frau das Leben gegenseitig schwer machen, sie als partners in crime aber auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden sind? Ist es Martha Ivers’ über Jahre bewahrte Glorifizierung des Abenteurers und Spielers Sam, den sie als Tor zur Freiheit, aber auch als Gefahr für ihre gesellschaftliche Stellung betrachtet? Ist es Martha Ivers’ abgöttische Beziehung zu ihrer eigenen Machtposition, die sie paranoid und intrigant macht? Ist es die kindliche Liebe zu einer Katze, die ein Menschenleben forderte? Oder gar der Umstand, dass Martha Ivers vielleicht gar keine richtige Liebe kennt, sondern Dinge nur in ihren Extremen betrachtet?

Vier Personen stehen sich in einem Wirrwarr von Emotionen gegenüber, dessen Fäden von Anfang an so verwirrt und verwickelt sind, dass die Situation nur auf eine Katastrophe zusteuern kann. Teilte Stanwycks großer Erfolg „Frau ohne Gewissen“ die Noir-Rollenkonzepte noch unzweifelhaft auf, so wirken die Figuren in „Martha Ivers“ dynamischer und vielschichtiger, sind weniger greif- und kategorisierbar. Manchmal erweckt Marthas Rolle Mitleid, manchmal Verachtung, manchmal sogar uneingeschränkte Zustimmung. Auch Sam ist ein Beispiel für die Ambiguität des Films, denn einerseits lässt er sich nicht von Martha einwickeln, tritt aber andererseits nicht als strahlender Held auf den Plan. Sogar seine militärischen Dekorationen erscheinen wie ein Treppenwitz der Geschichte an einem Spieler und Gelegenheitserpresser, der es mit Wahrheit und Gesetz nicht sonderlich genau nimmt und schon immer eher ein Halodri als ein zuverlässiger Saubermann war. Ähnliches gilt für die junge, aber keinesfalls unschuldige Toni, die aufzeigt, dass ein Happy End nicht nur moralisch integren Protagonisten vorbehalten bleibt. Das Leben hat sie vor harte Prüfungen gestellt, die sie häufig nicht bestehen konnte; auch ihre Liebe zu Sam bleibt vor dem Hintergrund der beiden wankelmütigen Persönlichkeiten fragwürdig. Noch am klarsten als Schurke erkennbar und damit recht einseitig im famosen Interaktionsgewirr des Films beschäftigt ist die Rolle von Walter, der die Eigenschaften eines duckmäuserischen Versagers mit denen eines rücksichtslosen Karrieremenschen zusammenbringt, aber kaum etwas Konstruktives beizusteuern weiß.

Einer der vier Hauptdarstellerleistungen etwas abzusprechen, wäre wahrlich vermessen. Die Akteure erwecken den Stoff unter der kenntnisreichen Regie von Lewis Milestone zu so greifbarem Leben, dass die Überlänge von 110 Minuten nicht nur anstandslos und hochspannend gefüllt wird, sondern das Ende nach dieser monumentalen Länge sogar noch immer ein wenig zu überhastet und code-gerecht erscheint. Nach einem weiteren Teil der Ivers-Odyssee hätte sich wohl jeder Zuschauer die Finger geleckt – das Personal hätte wohl sogar genug Sprengstoff für eine ganze Seifenoper hergegeben, ohne dabei billig oder effektheischend zu wirken. Vor allem Barbara Stanwycks starke Präsenz in der Rolle einer Frau ohne jede soziale Kompetenz (wo sollte diese im Hause Ivers auch herkommen?) bleibt nachhaltig in Erinnerung. Von Milestone wurde sie als „from A to Z, the greatest lady of the silver screen“ bezeichnet, während sich Newcomer Kirk Douglas an ihre Professionalität, aber auch ihre Zurückhaltung erinnert:

Zitat von Jeremy Arnold: „The Strange Love of Martha Ivers“ at Turner Classic Movies, Quelle
The crew adored her. They called her „Missy,“ and when she came on the set she went around hugging them, asking about their wives and children by name. But she was indifferent to me. Crew members need attention, but who needs help more than somebody working on his first picture? Several weeks later she noticed me. I could see it happening, like the lens of a camera turning into focus. She looked at me, made eye contact for the first time. She said, „Hey, you’re pretty good.“ I said, „Too late, Miss Stanwyck.“ I don’t think she knew what I meant. But after that, we became friends.


Die Schattenseite menschlicher Reflexe – Eifersucht, Machtverteidigung um jeden Preis, Hass und Habgier – stehen häufig im Fokus der Schwarzen Serie, werden aber selten so einprägsam und hitzig eingefangen wie in diesem Film. Einen lupenreinen Krimi sollte man nicht erwarten; als Drama und Charakterstudie ist dieser Film mit einer starken Stanwyck-Performance und einem ähnlich doppelbödigen Auftritt ihres Gegenübers Van Heflin Gold wert. 5 von 5 Punkten.

Peter Offline




Beiträge: 2.887

05.09.2015 16:13
#206 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten

Hui, zweimal 5 von 5, Einigkeit bei Percy und Gubanov. Und ich kenne das Ding tatsächlich noch nicht.... Die Bestellung ist bereits raus...

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

07.09.2015 21:52
#207 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten

Gute Entscheidung. Achte allerdings darauf, dass du dir bei "Martha Ivers" die DVD aus der Reihe "Die großen Filmklassiker" orderst, auch wenn sie ein klein wenig teurer ist.

Der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt bleiben soll Koch Medias Re-Issue von zehn älteren Film-Noir-Veröffentlichungen in der neuen Sammelbox Meisterwerke der Schwarzen Serie (10 Klassiker des Film Noir). Enthalten sind die Filme ...

● Vol. 01 der Film-Noir-Collection: Die blaue Dahlie (The Blue Dahlia, USA 1946)
● Vol. 02 der Film-Noir-Collection: Spiel mit dem Tode (The Big Clock, USA 1948)
● Vol. 08 der Film-Noir-Collection: Der Mann mit der Narbe (Hollow Triumph, USA 1948)
● Vol. 10 der Film-Noir-Collection: Briefe aus dem Jenseits (The Lost Moment, USA 1947)
● Vol. 15 der Film-Noir-Collection: Zeuge gesucht (Phantom Lady, USA 1944)
● Vol. 16 der Film-Noir-Collection: Unter Verdacht (The Suspect, USA 1944)
● Vol. 17 der Film-Noir-Collection: Der unheimliche Gast (The Uninvited, USA 1944)
● Vol. 18 der Film-Noir-Collection: Ministerium der Angst (Ministry of Fear, USA 1944)
● Vol. 19 der Film-Noir-Collection: Die Killer (The Killers, USA 1946)
● Vol. 20 der Film-Noir-Collection: Opfer der Unterwelt (D.O.A., USA 1950)


Zitat von Meisterwerke der Schwarzen Serie
Eine zutiefst pessimistische Grundhaltung, düstere Charaktere, kontrastreiche Bildgestaltung und äußerst sparsame Dialoge - das sind die Wesensmerkmale der berühmten "Schwarzen Serie", die als filmische Gattung viel dem Expressionismus verdankt. Ein dankbares Sujet nicht nur für Hollywoods A-Liga von Burt Lancaster über Susan Hayward und Ava Gardner bis hin zu Charles Laughton, sondern auch für ein paar der wichtigsten Regisseure ihrer Zeit, wie Fritz Lang und Robert Siodmak.

Insgesamt zehn legendäre Beispiele für die "Schwarze Serie" umfasst dies Film Noir - Collection in einer Box zusammen. Darunter Robert Siodmaks UNTER VERDACHT (1944) und DIE KILLER (1946), Fritz Langs MINISTERIUM DER ANGST (1944) und Rudolph Matés legendärer OPFER DER UNTERWELT. Ein Pflichtprogramm für alle, die Spannung, Dramatik und Thrill in Perfektion sehen wollen ...


Laufzeit: 883 Minuten. Sprache: Deutsch, Englisch. Untertitel: Deutsch, Englisch. FSK: Ab 16 Jahren. Extras: Original-Trailer, Bildergalerien, Featurettes. Erscheinungstermin: 08.10.2015.

Man kann wohl davon ausgehen, dass die Booklets der Einzelausgaben in der Sammelbox wie auch damals bei der "Film Noir Collection Box 1" nicht enthalten sein werden. Sonst dürfte die Box aber ein Schnäppchen sein für diejenigen Käufer, die bisher auf Noir-Pfaden noch nicht so häufig zugeschlagen haben.

Gubanov ( gelöscht )
Beiträge:

11.09.2015 17:00
#208 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten

Erneut punktetechnische Deckungsgleichheit zwischen Percy und mir bezüglich ...



Zeuge gesucht (Phantom Lady)

Kriminalfilm, USA 1944. Regie: Robert Siodmak. Drehbuch: Bernard C. Schoenfeld (Buchvorlage: Cornell Woolrich). Mit: Franchot Tone (Jack Marlow), Ella Raines (Carol Richman), Alan Curtis (Scott Henderson), Aurora (Estela Monteiro), Thomas Gomez (Inspektor Burgess), Fay Helm (Ann Terry), Elisha Cook jr. (Cliff), Andrew Tombes (Barmann), Regis Toomey (erster Polizist), Joseph Crehan (zweiter Polizist) u.a. Uraufführung (USA): 28. Januar 1944. Uraufführung (BRD): 21. April 1950. Eine Produktion von Universal Pictures.

Zitat von Zeuge gesucht
Ein Krach mit seiner Frau führt dazu, dass der Ingenieur Scott Henderson einen vergnügten Abend mit einer namenlosen Unbekannten verbringt. Zurück in seiner Wohnung dann der Schock: Scotts Frau ist ermordet worden – und die Polizei hält ihn für den Täter. Sein Alibi kann nirgends bestätigt werden, sodass Scott unschuldig des Mordes verurteilt wird. Seine Sekretärin Carol gibt sich mit den Aussagen der Beteiligten nicht zufrieden und setzt alles daran, die unbekannte Frau zu finden, die Scotts Alibi verifizieren kann. Doch der Mörder sucht ebenfalls nach ihr ...


Joan Harrisons Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock merkt man der Stoffauswahl der Produzentin gleich in der ersten Kameraeinstellung an: Es ist der Hut – ein Macguffin allerbester Couleur –, um den sich der gesamte Film dreht. Zwar stellen deutscher und englischer Titel dessen Trägerin in den Mittelpunkt, doch im Grunde ist das Modeaccessoire für Hobbydetektivin Carol von viel größerem Interesse: Hat sie Ann Terry, die namenlose Fremde, erst einmal aufgespürt, wird an ihre Aussagekraft als Zeugin kein Gedanke mehr verschwendet; es ist nur und ausschließlich der Hut, der als Pforte zum Glück und als Revisor begangenen Unrechts in wildeste Höhen stilisiert wird.

Dies ist nicht das einzige Beispiel für Depersonalisation in „Zeuge gesucht“: Ebenso wie Ann Terry (die Unbekannte mit dem zweifelhaften Vorschlag, die angenehmen Stunden mit Scott vollkommen anonym zu verbringen, die in jedem anderen Noir zur formidablen Femme fatale emporgestiegen wäre) verliert auch Scott die Kraft, die Handlung eigenständig voranzutreiben. Während seiner Inhaftierung verkehrt sich der Rollentypus des unschuldigen Schuldigen von einer großen Heldenfigur, wie Hitchcock sie häufig in seinen Man-on-the-Run-Filmen porträtierte, zu einem passiven Hilfesucher, der – ganz unmännlich – auf Unterstützung und Wohlwollen anderer angewiesen ist. Ein Zeichen persönlicher Schwäche vielleicht, auf jeden Fall aber ein allgemeingültiger Hinweis auf zerfallende Sozialstrukturen in der modernen Zivilisation – eine Zivilisation, die so noirtypisch düster daherkommt, dass mancher Filmhistoriker den noch vor „Double Indemnity“ gedrehten Streifen als Auslöser jener Noir-Hochphase betrachtet, die im Jahr 1944 begann.

Zitat von Robert Porfirio: „Phantom Lady“ in „Film Noir: The Encyclopedia“, Overlook Duckworth, New York / London 2010, S. 226
Siodmak and his brilliant cinematographer, Woody Bredell, provided Phantom Lady with the essential ingredients of Woolrich’s world: the desperate innocent at loose at night in New York City, a city of hot, rain-drenched streets and threatening shadows where the sound of footsteps on the pavement could mean trouble; of jazz emanating from low-class bars; of lonely subway platforms; and, most importantly, the suspense engendered by a sense of time running out. By defining this world almost entirely by mise en scène, Siodmak and his associates created a virtual template for the studio period of the noir cycle.


Das Hauptproblem des Films liegt dann auch in seiner Exemplarität und in dem Wunsch, einen ganzen noiresken (Neben-)Figurenkanon durchdeklinieren zu wollen. Egal ob man sich an den unnötigen sexuellen Ausschweifungen des Schlagzeugers Cliff, der überkandidelten Eitelkeit der Diva Monteiro, der Harmlosigkeit des Helden oder der mangelnden Geheimniskrämerei um die Mörderpersonalie stößt – in seiner markanten, aber eben auch gewagten Personenzeichnung kommt „Zeuge gesucht“ einfach nicht umhin, einen Großteil des Publikums je nach Präferenz mit der einen oder anderen Figur vor den Kopf zu stoßen. Als rundum gelungene Charaktere bleiben unterm Strich nur die engagierte Schnüfflerin Carol und der vom latenten Pessimismus seiner Diensterfahrung geprägte Inspektor Burgess in Erinnerung. Letzterer präsentiert dem Zuschauer die stillere Seite von Thomas Gomez, der in „Sherlock Holmes: Die Stimme des Terrors“ noch sehr überzeugend einen Fanatiker gespielt hat, dessen Weltanschauung sich weitgehend mit denen des in „Zeuge gesucht“ überführten Mörders decken dürfte.

Das spannende und scheinbar ausweglose Finale rettet einen Film, dessen unausgegorene Dramaturgie das formal sehr ansprechende Früh-Noir-Flair schwer schädigt. Selbst die in gestochenem Schwarzweiß mit raffinierter Beleuchtung gedrehten Szenen können nicht verbergen, dass „Zeuge gesucht“ klar in den B-Reihen des Noir-Zyklus anzusiedeln ist. 3,5 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
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15.09.2015 21:30
#209 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten



Schritte in der Nacht (He Walked by Night)

Polizeifilm, USA 1948. Regie: Alfred L. Werker, Anthony Mann. Drehbuch: Crane Wilbur, John C. Higgins. Mit: Richard Basehart (Roy Martin), Scott Brady (Sergeant Marty Brennan), Roy Roberts (Captain Breen), Whit Bissell (Paul Reeves), James Cardwell (Sergeant Chuck Jones), Jack Webb (Lee Whitey), Robert Bice (Polizist Steno), John McGuire (Robert Rawlins), Lyle Latell (Sergeant), Reed Hadley (Erzähler) u.a. Uraufführung (USA): 24. November 1948. Uraufführung (BRD): 24. Februar 1950. Eine Produktion von Eagle-Lion Films und Bryan Foy Productions.

Zitat von Schritte in der Nacht
Ein Polizist ertappt auf dem Nachhauseweg einen Einbrecher auf frischer Tat. Der Mann schießt den Gesetzeshüter nieder und flüchtet. Eine Fahndung erzielt zunächst keine Ergebnisse. Erst weitere Verbrechen bringen die Polizei auf die Fährte des jungen Mannes, der mit technischem und kriminellem Geschick ausgestattet und in Aussehen und Methode äußerst wandelbar ist. Zeugenaussagen führen schließlich zu einem Phantombild und dem Hinweis auf den Wohnort des kaltblütigen Mörders ...


Die gern vom F.B.I., aber auch aus dubiosen Quellen – man munkelt bis hin zu einer finanziellen Beteiligung der Mafia – protegierte Unterart des Doku-Noir diente in den späten 1940er Jahren vor allem der Imagepflege der Polizei in Kombination mit der Befriedigung der Sensationsgier des Publikums. Lupenreine, ehrenwerte, aber auch nur auf ihren Dienst reduzierte und somit völlig austauschbare Gerechtigkeitsvollstrecker treffen deshalb auf einen abgrundtief bösen Psychopathen, der eine ganze Stadt lediglich durch seine grundlose Lust am Verbrechen in Aufruhr versetzt. Jedem Zuschauer geht bald auf, dass nicht nur der Ausgang des Films, sondern auch seine Rhetorik ganz klar vorbestimmt ist.

„He Walked by Night“ zeigt die Polizisten als aufopfernde lebendige Schutzschilder des Rechtsstaats, die „an der Front“ ihr Leben für die demokratischen Grundwerte riskieren und jederzeit – auch außerhalb des Dienstes – damit rechnen müssen, plötzlich eine schussbereite Waffe auf sich gerichtet zu sehen. Leider ergötzt sich das Drehbuch nach einer Geschichte von Crane Wilbur dann auch eher an langgezogenen Schießereien und Fluchtwegen durchs Dunkel, anstatt der Handlung auch nur den geringsten Anspruch angedeihen zu lassen. Selbst wenn es das Ziel ist, Respekt für die Polizisten zu erwecken, so kann dies nur ihren Mut, nicht aber ihr Köpfchen betreffen. Ihre größten Ermittlungserfolge bestehen in der Erstellung eines Identikit-Phantombilds und viel fußläufiger Routinearbeit. Den Täter dagegen stilisieren sie (sogar wortwörtlich) zum Genie, nur weil dieser nicht so dumm ist, sich gleich nach dem ersten Mord fangen zu lassen. Klar, dass diese Bewunderung hauptsächlich den Zweck hat, den letztendlichen Erfolg des homicide squad noch heroischer wirken zu lassen; wie ein erlegtes Tier liegt der Mörder am Ende im Rinnstein, die Jagd ist beendet, die Nation kann wieder ruhig schlafen, mehr ist unwichtig, Abblende.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass Werkers Film, der gemäß verschiedener Quellen über weite Strecken von Billigfilm-Regisseur Anthony Mann zu Ende gedreht wurde, auch seine Meriten hat. Richard Baseharts Darstellung des unberechenbaren Soziopathen ist recht einprägsam; als Zuschauer leidet man förmlich mit, wenn er sich vor dem Spiegel eine Pistolenkugel aus der Wunde operiert. Jene auf Romanzen allergisch reagierenden Zuschauer werden zudem die Abwesenheit jeder nennenswerten weiblichen Rolle und damit auch jeder Romanze mit Wohlwollen bemerken. Und schließlich wäre wohl auch Jürgen Roland ein beträchtliches Stück weniger beschäftigt gewesen bzw. prominent geworden, hätte es diesen Noir nicht gegeben:

Zitat von Robert Porfirio: „He Walked by Night“ in „Film Noir: The Encyclopedia“, Overlook Duckworth, New York / London 2010, S. 128
For one thing, the subterranean tracking [...] of Roy Martin is a sequence whose visual and auditory style anticipates the more famous sequence in the British production of The Third Man (1949) [...]. More significantly, this is the film from which Jack Webb drew the inspiration for his popular radio show (1949) and later television series Dragnet (which debuted in 1951).


Wenn es eines relativ drögen Polizeithrillers wie „He Walked by Night“ bedurfte, um das (vor allem im deutschen Raum wesentlich gelungenere) „Stahlnetz“ aus der Taufe zu heben, so gebührt Werker und Mann trotz 76 nicht besonders aufregender Minuten ein großer Verdienst.

Dramaturgisch simpel strukturierte Hetzjagd ohne wirklich nennenswerte Personalien. Optisch ist „He Walked by Night“ recht beeindruckend eingefangen, was allerdings durch das von John Alton wohlbekannte (Alp-)Traumwelt-Chiaroscuro auch nicht so recht zum dokumentarischen Tonfall der Produktion passen möchte. 3 von 5 Punkten.

Gubanov ( gelöscht )
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26.10.2015 20:55
#210 RE: Sammelthread "Film Noir" Zitat · Antworten



Ein Kuss vor dem Tode (A Kiss Before Dying)

Kriminalfilm, USA 1956. Regie: Gerd Oswald. Drehbuch: Lawrence Roman (Buchvorlage: Ira Levin). Mit: Robert Wagner (Bud Corliss), Jeffrey Hunter (Gordon Grant), Virginia Leigh (Ellen Kingship), Joanne Woodward (Dorothy „Dorie“ Kingship), Mary Astor (Mrs. Corliss), George Macready (Leo Kingship), Robert Quarry (Dwight Powell), Howard Petrie (Polizeichef Howard Chesser), Bill Walker (Butler), Molly McCart (Annabelle) u.a. Uraufführung (USA): 12. Juni 1956. Uraufführung (BRD): 28. September 1956. Eine Produktion von United Artists und Crown Productions.

Zitat von Ein Kuss vor dem Tode
Dorie Kingship erwartet ein Kind von ihrem Studienfreund Bud. Für diesen lässt die Nachricht eine Welt zerbrechen, weiß er doch, dass Dories sittenstrenger Vater nie seine Einwilligung zu einer unter diesen Umständen geschlossenen Ehe geben würde. Damit ist auch das Familienvermögen für Bud in unerreichbare Ferne gerückt. Er beschließt, Dorie zu ermorden. Ein erster Versuch schlägt fehl, sodass er zur Improvisation gezwungen wird und Dorie in die Tiefe stößt. Nach getaner Arbeit nimmt er einen zweiten Anlauf ans Kingship’sche Vermögen, indem er Dories Schwester Ellen verführt ...


Es ist nicht in erster Linie die Kaltblütigkeit, mit der Bud Corliss seine Pläne verfolgt, die den Zuschauer abschreckt. Als noch effektiver erweist sich die Strategie, die Schichten seiner wahren Persönlichkeit nach und nach freizulegen und das Publikum damit ein ums andere Mal zu zwingen, eine Neuevaluierung des angeblichen Sonnyboys vorzunehmen. Wenn er zunächst seine weinende Freundin tröstet, hält man Robert Wagner für einen couragierten jugendlichen Helden – immerhin wird die Todsünde des jungen Pärchens, vor der Eheschließung ein Kind gezeugt zu haben, kaum als verdammenswerte Tat thematisiert. Erst der zufällige Sturz Dories scheint Bud in einen verwegenen Mordplan heranreifen zu lassen, den er zunächst – im Keller der Chemiefakultät noch mit gehörigem Muffensausen – vorbereitet. Erst Schritt für Schritt findet er bei seinen schmutzigen Taten zu alter Selbstsicherheit zurück, wobei man zunächst dazu verleitet wird, den Mord an der naiven und hasenfüßigen Dorie als Notwendigkeit zu akzeptieren. In diesem Stadium verraten nur kleine Gesten Buds grenzenlose Egomanie (das Parken im Halteverbot und der Tausch einer für ihn herausgelegten Krawatte). Später wird man sich bewusst, dass der Psychopath vor keiner Tat zurückschreckt, um am anfangs gesetzten Ziel keine Abstriche vornehmen zu müssen. Ein Verbrecher nicht nur aus Habgier, sondern vor allem aus Geltungsbedürfnis und Selbstbestätigung – Wagner füllt diese Rolle mit bestürzender Glaubwürdigkeit aus.



Man mag nicht glauben, dass mit „A Kiss Before Dying“ der Debütfilm des Regisseurs Gerd Oswald vorliegt. Optisch ist der im Scope-Format aufgenommene Film eine einzige Augenweide, der strahlenden Tag und schwüle Nacht in Tucson, Arizona, zu einer spannungsgeladenen und doch erfrischenden Melange verarbeitet. Er nimmt dabei sowohl das Universitätsgelände der Stadt als auch ein oasenartiges Anwesen vor den Toren der Stadt und die Kupfertagebaue inmitten der kahlen Wüste in den Blick und nutzt diese Szenarien, um das Mordspiel mit Himmelblau, Zitronengelb und eben Kupferbraun geschickt zu untermalen. Wenn einige missgünstige Rezensenten darauf hinweisen, dass Alfred Hitchcock aus mancher Szene vielleicht etwas mehr herausgekitzelt hätte, so muss dies nicht zwangsläufig als Kritik an diesem ausgesprochen gelungenen Film Noir betrachtet werden. Allein der Umstand, dass Oswalds Film mehrfach an Hitchcock denken und diesen Vergleich aufkommen lässt, ist Qualitätsbeweis und Lob genug.

Ähnlich wie bei Hitchcock scheinen Haarfarben der Hauptdarstellerinnen eine wichtige Rolle zu spielen. Während die zum Opfer gebrandmarkte Dorie mit unvorteilhafter Blondinenfrisur wie ein wächsernes Püppchen erscheint, so wird der brünetten Schwester Ellen ungleich mehr Intelligenz und Tatkraft zugesprochen. Buds Mutter schließlich trägt in Gestalt der reichlich abgehalfterten Mary Astor einen brandroten Schopf, der ebenso wie die von ihrem Sohn kritisierte billige Kleidung zu rufen scheint: Ich passe in Buds Lebenskonzept nicht mehr hinein. Ohnehin gerät „A Kiss Before Dying“ weniger zu einem tiefschürfenden Film der Romanzen als vielmehr zu einer fragmentartigen Dokumentation von Eltern-Kind-Beziehungen. Auch die Kingship-Mädchen leben in einem dysfunktionalen Elternhaus, aus dem der prinzipienstrenge Vater die Mutter schon längst vertrieben hat.

Zitat von Daniel Hodges: „A Kiss Before Dying“ in „Film Noir: The Encyclopedia“, Overlook Duckworth, New York / London 2010, S. 167
[A]t the conclusion of the film [Bud] and Leo [Kingship] no longer share a clump of ore where there should be a heart. Bud may not change during the movie, but the transformation of Leo from a heartless to a sensitive father is central to the second half of the film. [...] [In the final scene] Leo approaches [Ellen] but doesn’t touch her. She bumps into him as she walks past him. Neither says a word. They turn and face each other. Ellen puts her hand on Leo’s arm. Completing their rapprochement, Leo gently holds hers. The finale isn’t about Ellen and Bud or Ellen and Gordon. The conclusion of A Kiss Before Dying is that Leo at last has a heart and Ellen knows it.


Auch wenn es einer der beliebtesten Schachzüge des Kriminalfilms ist, dass jemand aus Eigennutz zum Mörder wird, so führt doch kaum ein Killer seine Taten mit so verbissener Konsequenz aus wie Robert Wagners Bud Corliss, über den das DVD-Cover ganz richtig behauptet: „He had looks, charm ... and killer instincts“. Der spannende und wendungsreiche Krimi wird von einer fantastischen Inszenierung und Fotografie unterstützt. 4,5 von 5 Punkten – die volle Punktzahl wäre bei einer besseren Ausarbeitung des formelhaften Detektivs Gordon zum Greifen nah gewesen.

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